Wollen wir Goethe als Genie nur betrachten oder ihn verstehen?
Für Ersteres reicht seine Werke zu lesen, für Letzteres ist
notwendig, seine Werke zu lesen und in die Seele seiner
Personalität einzudringen.

Gesellschaftstheater ("Wilhelm Meister Lehrjahre"-Auszüge)
Willkommen auf der Bühne des Lebens !
Ein selbsterklärendes Spiegelbild des "Meisters"

Um die Seele des Dichterfürsten zu erkunden, muß man seine Figuren
sprechen lassen. (Erbe)

Goethe: Zweiter römischer Aufenthalt, Frascati, 2.Oktober 1782

"Ich habe Gelegenheit gehabt, über mich selbst und andere, über Welt und
Geschichte viel nachzudenken, wovon ich manches Gute, wenngleich nichts
Neues, auf meine Art mitteilen werde. Zuletzt wird alles im "Wilhelm" gefaßt
und geschlossen."

[Wilhelm + seine Mutter]
"Als Wilhelm seine Mutter des andern Morgens begrüßte, eröffnete sie ihm, daß der Vater sehr
verderdrießlich sei und ihm den täglichen Besuch des Schauspiels nächstens untersagen werde.
Wenn ich gleich selbst, fuhr sie fort, manchmal gern ins Theater gehe; so möchte ich es doch oft
verwünschen, da meine häusliche Ruhe durch deine unmäßige Leidenschaft zu diesem Vergnü-
gen gestört wird.
Der Vater wiederholt immer, wozu es nur nütze sei? Wie man seine Zeit nur so verderben könne? -
Ich habe es auch schon von ihm hören müssen, versetzte Wilhelm: und habe ihm vielleicht zu
hastig geantwortet; aber ums Himmelswillen Mutter! ist denn alles unnütz, was uns nicht un-
mittelbar Geld in den Beutel bringt, was uns nicht den allernächsten Besitz verschafft?"

Diese seidenen Tapeten, diese englischen Mobilien sind sie nicht auch unnütz? Könnten wir
uns nicht mit geringeren begnügen?
Wenigstens bekenne ich, daß mir diese gestreiften Wände, diese hundertmal wiederholten Blu-
men, Schnörkel, Körbchen und Figuren einen durchaus unangenehmen Eindruck machen.
Sie kommen mir höchstens vor wie unser Theatervorhang. Aber wie anders ists vor diesem zu
sitzen! Wenn man noch so lange warten muß, so weiß man doch, er wird in die Höhe gehen, und
wir werden die mannigfaltigsten Gegenstände sehen, die uns unterhalten, aufklären und erheben. -
Mach' es nur mäßig, sagte die Mutter: der Vater will auch Abends unterhalten sein, und dann
glaubt er, es zerstreue dich, und am Ende trage ich, wenn er verdrießlich wird, die Schuld.
Wie oft mußte ich mir das verwünschte Puppenspiel vorwerfen lassen, das ich euch
vor zwölf Jahren zum heiligen Christ gab, und das euch zuerst Geschmack am Schauspiele
beibrachte!"

[Wilhelm - seine erste Liebe, Mariane eine Schauspielerin]
"Wenn die erste Liebe, wie ich allgemein behaupten höre, das Schönste ist, was ein Herz früher
oder später empfinden kann; so müssen wir unsern Helden dreifach glücklich preisen, daß ihm
gegönnt ward, die Wonne dieser einzigen Augenblicke in ihrem ganzen Umfange zu genießen.
Nur wenig Menschen werden so vorzüglich begünstigt, indes die meisten von ihren früheren
Empfindungen nur durch eine harte Schule geführt werden, in welcher sie, nach einem küm-
merlichen Genuß, gezwungen sind, ihren besten Wünschen entsagen, und das, als höchste
Glückseligkeit vorschwebte, für immer entbehren zu lernen."

[Wilhelm allein]
"Seine Jugend ließ ihn reiche Freuden genießen, die von einer lebhaften Dichtung erhöht und
erhalten wurden."

[Wilhelm - nach einer Puppenspielauführung in seiner Kindheit]
"Ich verlor mich in tiefes Nachdenken und war nach dieser Entdeckung ruhiger und unruhiger
als vorher. Nachdem ich etwas erfahren hatte, kam es mir erst vor, als ob ich gar nichts wis-
se, und ich hatte Recht: denn es fehlte mir der Zusammenhang, und darauf kommt doch eigent-
lich alles an."

[Wilhelm - beim eigenen Puppenspiel als Kind]
"Meine Einbildungskraft brütete über der kleinen Welt, die gar bald eine andere Gestalt gewann."

"Meiner Leidenschaft, jeden Roman, den ich las, jede Geschichte die man mich lehrte, in einem
Schauspiele darzustellen, konnte selbst der unbiegsamste Stoff nicht widerstehen. Ich war völlig
überzeugt, daß alles was in der Erzählung ergötzte, vorgestellt eine viel größere Wirkung tun
müsse; alles sollte vor meinen Augen, alles auf der Bühne vorgehen.
Wenn uns in der Schule die Weltgeschichte vorgetragen wurde, zeichnete ich mir sorgfältig aus,
wo einer auf eine besondere Weise erstochen oder vergiftet wurde, und meine Einbildungskraft
sah über Exposition und Verwicklung hinweg und eilte dem interessanten fünften Akte zu; so
fing ich auch wirklich an, einige Stücke von hinten hervor zu schreiben, ohne daß ich auch nur
bei einem einzigen bis zum Anfange gekommen wäre.
Zu gleicher Zeit las ich, teils aus eignem Antrieb, teils auf Veranlassung meiner guten Freun-
de, welche in den Geschmack gekommen waren Schauspiele aufzuführen, einen ganzen Wust
theatralischer Produktionen durch, wie sie der Zufall mir in die Hände führte. Ich war in den
glücklichen Jahren, wo uns noch alles gefällt, wo wir in der Menge und Abwechslung unsre
Befriedigung finden. Leider aber ward mein Urteil noch auf eine andere Weise bestochen.
Die Stücke gefielen mir besonders, in denen ich zu gefallen hoffte, und es waren wenige, die
ich nicht in dieser angenehmen Täuschung durchlas; und meine lebhafte Vorstellungskraft,
da ich mich in alle Rollen denken konnte, verführte mich zu glauben, daß ich auch alle dar-
stellen würde; gewöhnlich wählte ich daher bei der Austeilung diejenigen, welche sich gar
nicht für mich schickten, und wenn es nur einigermaßen angehn wollte, wohl gar ein paar Rol-
len."

[Wilhelm - bei kindlich schauspielerischen Übungen]
"Diese Spiele, obgleich ohne Verstand unternommen und ohne Anleitung durchgeführt, waren
doch nicht ohne Nutzen für uns. Wir übten unser Gedächtnis und unsern Körper, und erlangten
mehr Geschmeidigkeit im Sprechen und Betragen, als man sonst in so frühen Jahren gewinnen
kann. Für mich aber war jene Zeit besonders Epoke, mein Geist richtete sich ganz nach dem The-
ater, und ich fand kein größeres Glück, als Schauspiele zu lesen, zu schreiben und zu spielen."

"Der Bühne wollte ich meine ganze Tätigkeit widmen, auf ihr mein Glück und meine Zufrie-
denheit finden.
Ich erinnere mich noch eines Gedichtes, das sich unter meinen Papieren finden muß, in wel-
chem die Muse der tragischen Dichtkunst und eine andere Frauengestalt, in der ich das Gewerbe
personifiziert hatte, sich um meine werte Person recht wacker zanken.
Die Erfindung ist gemein, und ich erinnere mich nicht, ob die Verse etwas taugen; aber Ihr
sollt es sehen, um der Furcht, des Abscheues, der Liebe und der Leidenschaft willen, die darin
herrschen.
Wie ängstlich hatte ich die alte Hausmutter geschildert mit dem Rocken im Gürtel, mit
Schlüsseln an der Seite, Brillen auf der Nase, immer fleißig, immer in Unruhe, zänkisch und
haushältisch, kleinlich und beschwerlich! Wie kümmerlich beschrieb ich den Zustand dessen,
der sich unter ihrer Rute bücken und sein knechtisches Tagewerk im Schweiße des Angesichtes
verdienen sollte!
Wie anders trat jene dagegen auf! Welche Erscheinung ward sie dem bekümmerten Herzen!
Herrlich gebildet, in ihrem Wesen und Betragen als eine Tochter der Freiheit anzusehen.
Das Gefühl ihrer selbst gab ihr Würde ohne Stolz; ihre Kleider ziemten ihr, sie umhüllten
jedes Glied, ohne es zu zwängen, und die reichlichen Falten des Stoffes wiederholten,
wie ein tausendfaches Echo, die reizenden Bewegungen der Göttlichen. Welch ein Kontrast!
Und auf welche Seite sich mein Herz wandte, kannst du leicht denken.
Auch war nichts vergessen, um meine Muse kenntlich zu machen. Kronen und Dolche, Ket-
ten und Masken, wie sie mir meine Vorgänger überliefert hatten, waren ihr auch hier zugeteilt.
Der Wettstreit war heftig, die Reden beider Personen kontrastierten gehörig, da man im vier-
zehnten Jahr gewöhnlich das Schwarze und Weiße recht nah an einander zu malen pflegt.
Die Alte redete, wie es einer Person geziemt, die eine Stecknadel aufhebt, und jene, wie eine,
die Königreiche verschenkt. Die warnenden Drohungen der Alten wurden verschmäht; ich sah
die mir versprochenen Reichtümer schon mit dem Rücken an: enterbt und nackt übergab ich mich
der Muse, die mir ihren goldnen Schleier zuwarf und meine Blöße bedeckte.- "

[Wilhelm + Mariane]
"So brachte Wilhelm seine Nächte im Genusse vertraulicher Liebe, seine Tage in Erwartung neuer
seliger Stunden zu.
Schon zu jener Zeit, als ihn Verlangen und Hoffnung zu Marianen hinzog, fühlte er sich
wie neu belebt, er fühlte, daß er ein anderer Mensch zu werden beginne; nun war er mit ihr
vereinigt, die Befriedigung seiner Wünsche ward eine reizende Gewohnheit. Sein Herz strebte,
den Gegenstand seiner Leidenschaft zu veredlen, sein Geist, das geliebte Mädchen mit sich
empor zu heben. In der kleinsten Abwesenheit ergriff ihn ihr Andenken. War sie ihm sonst
notwendig gewesen, so war sie ihm jetzt unentbehrlich, da er mit allen Banden der Menschheit
an sie geknüpft war. Seine reine Seele fühlte, daß sie die Hälfte, mehr als die Hälfte seiner
selbst sei. Er war dankbar und hingegeben ohne Grenzen."

"Er war jung und neu in der Welt, und sein Mut, in ihren Weiten nach Glück und Befriedigung
zu rennen, durch die Liebe erhöht.
Seine Bestimmung zum Theater war ihm nunmehr klar; das hohe Ziel, das er sich vorgesteckt sah,
schien ihm näher, indem er an Marianens Hand hinstrebte, und in selbstgefälliger Bescheidenheit
erblickte er in sich den trefflichen Schauspieler, den Schöpfer eines künftigen National-Theaters,
nach dem er so vielfältig hatte seufzen hören.
Alles, was in den innersten Winkeln seiner Seele bisher geschlummert hatte, wurde rege.
Er bildete aus den vielerlei Ideen mit Farben der Liebe ein Gemälde auf Nebelgrund, dessen
Gestalten freilich sehr in einander flossen; dafür aber auch das Ganze eine desto reizendere Wir-
kung tat."

[Wilhelm + im Dialog mit Werner, Geschäftsmann und damalig noch Jugendfreund]
"Er (Wilhelm) saß nun zu Hause, kramte unter seinen Papieren, und rüstete sich zur Abreise.
Was nach seiner bisherigen Bestimmungen schmeckte, ward bei Seite gelegt, er wollte bei seiner
Wanderung in die Welt auch von jeder unangenehmen Erinnerung frei sein. Nur Werke des
Geschmacks, Dichter und Kritiker wurden als bekannte Freunde unter die Erwählten gestellt; und
da er bisher die Kunstrichter sehr wenig genutzt hatte, so erneuerte sich sein Begierde nach
Belehrung, als er seine Bücher wieder durchsah und fand, daß die theoretischen Schriften noch
meist unaufgeschnitten waren. Er hatte sich, in der völligen Überzeugung von der Notwendigkeit
solcher Werke, viele davon angeschafft, und mit dem besten Willen in keines auch nur bis in die
Hälfte sich hinein lesen können.
Dagegen hatte er sich desto eifriger an Beispiele gehalten, und in allen Arten die ihm bekannt
worden waren, selbst Versuche gemacht.
Werner trat herein, und als er den seinen Freund mit den bekannten Heften beschäftig sah, rief
er aus: Bist du schon wieder über diesen Papieren? Ich wette, du hast nicht die Absicht, eins oder
das andere zu vollenden! Du sieht sie durch und wieder durch, und beginnst allenfalls etwas neues. -
(Wilhelm) Zu vollenden ist nicht die Sache des Schülers, es ist genug wenn er sich übt -
(Werner) Aber doch fertig macht, so gut er kann.
(Wilhelm) Und doch ließe sich wohl die Frage aufwerfen: ob man nicht eben gute Hoffnung von
einem jungen Menschen fassen könne, der bald gewahr wird, wenn er etwas Ungeschicktes unter-
nommen hat, in der Arbeit nicht fortfährt, und an etwas, das niemals einen Wert haben kann,
weder Mühe noch Zeit verschwenden mag.
(Werner) Ich weiß wohl, es war nie deine Sache etwas zu Stande zu bringen, du warst immer müde
eh' es zur Hälfte kam."

(Werner) "Ich finde nichts vernünftiger in der Welt, als von den Torheiten anderer Vorteil zu ziehen.
(Wilhelm) Ich weiß nicht, ob es nicht ein edleres Vergnügen wäre, die Menschen von ihren Torheiten
zu heilen. -
(Werner) Wie ich sie kenne, möchte das wohl ein eitles Bestreben sein. Es gehört schon etwas da-
zu, wenn ein einziger Mensch klug und reich werden soll, und meistens wird er es auf Unkosten
der Andern."

(Werner) "Welche Vorteile gewährt die doppelte Buchhaltung dem Kaufmanne! Es ist eine der
schönsten Erfindungen des menschlichen Geistes, und ein jeder guter Haushalter sollte sie in
seiner Wirtschaft einführen.
Verzeih mir, sagte Wilhelm lächelnd, du fängst von der Form an, als wenn das die Sache wäre; ge-
wöhnlich vergeßt ihr aber auch über eurem Addieren und Bilanzieren das eigentliche Fazit des Lebens."

(Werner) "Es haben die Großen dieser Welt sich der Erde bemächtiget, sie leben in Herrlichkeit
und Überfluß.
Der kleinste Raum unsers Weltteils ist schon in Besitz genommen, jeder Besitz befestiget, Ämter
und andere bürgerliche Geschäfte tragen wenig ein; wo gibt es nun noch einen rechtmäßigeren Er-
werb, eine billigere Eroberung als den Handel? Haben die Fürsten dieser Welt die Flüsse, die Wege,
die Häfen in ihrer Gewalt, und nehmen von dem, was durch und vorbei geht, einen starken Gewinn:
sollen wir nicht mit Freuden die Gelegenheit ergreifen, und durch unsere Tätigkeit auch Zoll
von jenen Artikeln nehmen, die teils das Bedürfnis, teils der Übermut den Menschen unentbehr-
lich gemacht hat?
Und ich kann dir versichern, wenn du nur deine dichterische Einbildungskraft anwenden wolltest,
so könntest du meine Göttin als eine unüberwindliche Siegerin der deinigen kühn entgegenstellen.
Sie führt freilich lieber den Ölzweig als das Schwert; Dolch und Ketten kennt sie gar nicht: aber
Kronen teilet sie auch ihren Lieblingen aus, die, es sei ohne Verachtung jener gesagt, von echtem
aus der Quelle geschöpftem Golde und von Perlen glänzen, die sie aus der Tiefe des Meeres durch
ihre immer geschäftigen Diener geholt hat."

"Und dir, rief Werner aus, der du an menschlichen Dingen so herzlichen Anteil nimmst, was wird es
dir für ein Schauspiel sein, wenn du das Glück, das mutige Unternehmungen begleitet, vor deinen
Augen den Menschen wirst gewährt sehen! Was ist reizender als der Anblick eines Schiffes, das von
einer glücklichen Fahrt wieder anlangt, das von einem reichen Fange frühzeitig zurückkehrt! Nicht
der Verwandte, der Bekannte, der Teilnehmer allein, ein jeder fremder Zuschauer wird hingerissen,
wenn er die Freude sieht, mit welcher der eingesperrte Schiffer ans Land springt, noch ehe sein
Fahrzeug es ganz berührt, sich wieder frei fühlt, und nunmehr das, was er dem falschen Wasser
entzogen, der getreuen Erde anvertrauen kann.
Nicht in Zahlen allein, mein Freund, erscheint uns der Gewinn; das Glück ist die Göttin der le-
bendigen Menschen, und um ihre Gunst wahrhaft zu empfinden, muß man leben und Menschen
sehen, die sich recht lebendig bemühen und recht sinnlich genießen."

[Dialog: Wilhelm + Melina, ein fahrender Schauspieler]
"Ja, versetzte der andere (Melina), ich habe mir vorgenommen, nicht wieder auf das Theater zurück
zu kehren, vielmehr eine bürgerliche Bedienung, sie sei auch welche sie wolle, anzunehmen, wenn
ich nur eine erhalten kann.
(Wilhelm) Das ist ein sonderbarer Entschluß, den ich nicht billigen kann; denn ohne besondere
Ursache ist es niemals ratsam, die Lebensart, die man ergriffen hat, zu verändern, und über-
dies wüßte ich keinen Stand, der so viel Annehmlichkeiten, so viel reizende Aussichten dar-
böte, als den eines Schauspielers.
(Melina) Man sieht, daß Sie keiner gewesen sind, versetzte jener, -
Darauf sagte Wilhelm: mein Herr, wie selten ist der Mensch mit dem Zustande zufrieden, in dem
er sich befindet, er wünscht sich immer den seines Nächsten, aus welchem sich dieser gleichfalls
heraussehnt!"
Indes bleibt doch ein Unterschied, versetzte Melina, zwischen dem schlimmen und dem schlimmern;
Erfahrung, nicht Ungeduld, macht mich so handeln. Ist wohl irgend ein Stückchen Brot kümmerlicher,
unsicherer und mühseliger in der Welt? Beinahe wäre es eben so gut, vor den Türen zu betteln."

[Wilhelm]
"Kaum war er allein, so mußte er sich in folgenden Ausrufungen Luft machen: unglücklicher Melina,
nicht in deinem Stande, sondern in dir liegt das armselige, über das du nicht Herr werden kannst!
Welcher Mensch in der Welt, der ohne innern Beruf ein Handwerk, eine Kunst oder irgend eine
Lebensart ergriffe, müßte nicht wie du seinen Zustand unerträglich finden?
Wer mit einem Talente zu einem Talente geboren ist, findet in demselben sein schönstes Dasein!
Nichts ist auf der Erde ohne Beschwerlichkeit, nur der innre Trieb, die Lust, die Liebe helfen
uns Hindernisse überwinden, Wege bahnen, und uns aus dem engen Kreise, worin sich andere
kümmerlich abängstigen, emporheben -
Dir sind die Bretter nichts als Bretter, und die Rollen, was einem Schulknaben sein Pensum ist.
Dir könnte es also freilich einerlei sein, hinter einem Pult über liniierten Büchern zu sitzen, Zin-
sen einzutragen und Reste herauszustochern.
Du fühlst nicht das zusammenbrennende, zusammentreffende Ganze, das allein durch den Geist
erfunden, begriffen und ausgeführt wird, du fühlst nicht, daß in den Menschen ein besserer
Funke lebt, der, wenn er keine Nahrung erhält, wenn er nicht geregt wird, von der Asche täg-
licher Bedürfnisse und Gleichgültigkeit tiefer bedeckt, und doch so spät und fast nie erstickt
wird. Du fühlst in deiner Seele keine Kraft ihn aufzublasen, in deinem Herzen keinen Reichtum,
um dem erweckten Nahrung zu geben. Der Hunger treibt dich, die Unbequemlichkeiten sind
dir zuwider, und es ist dir verborgen, daß in jedem Stande diese Feinde lauren, die nur mit
Freudigkeit und Gleichmut zu überwinden sind. Du tust wohl, dich in jene Grenzen einer ge-
meinen Stelle zu sehnen; denn welche würdest du wohl ausfüllen, die Geist und Mut verlangt?
Gib einem Soldaten, einem Staatsmanne, einem Geistlichen deine Gesinnungen, und mit eben
so viel Recht wird er sich über das Kümmerliche seines Standes beschweren können.
Ja, hat es nicht sogar Menschen gegeben, die von allem Lebensgefühl so ganz verlassen waren,
daß sie das ganze Leben und Wesen der Sterblichen für ein Nichts, für ein kummervolles und
staubgleiches Dasein erklärt haben?
Regten sich lebendig in deiner Seele die Gestalten würkenden Menschen, wärmte deine Brust
ein teilnehmendes Feuer, verbreitete sich über deine ganze Gestalt die Stimmung, die aus dem
innersten kommt, wären die Töne deiner Kehle, die Worte deiner Lippen lieblich anzuhören,
fühltest du dich genug in dir selbst, so würdest du dir gewiß Ort und Gelegenheit aufsuchen,
dich in andern fühlen zu können."

[Wilhelms Kindheit]
"In einem feinen Bürgerhause erzogen, war Ordnung und Reinlichkeit das Element, worin er atmete,
und indem er von seinem Vaters Prunkliebe einen Teil geerbt hatte, wußte er, in den Knabenjahren,
sein Zimmer, das er als sein kleines Reich ansah, stattlich auszustaffieren. Seine Bettvorhänge
waren in große Falten aufgezogen und mit Quasten befestigt, wie man Thronen vorzustellen pflegt,
er hatte sich einen Teppich in die Mitte des Zimmers, und einen feinern, auf den Tisch anzuschaffen
gewußt, seine Bücher und Gerätschaften legte und stellte er fast mechanisch so, daß ein nieder-
ländischer Maler gute Gruppen zu seinen Still-Leben hätte heraus nehmen können.
Eine weiße Mütze hatte er wie einen Turban zurecht gebunden, und die Ärmel seines Schlafrockes
nach orientalischen Costüme kurz stutzen lassen. Doch gab er hiervon die Ursache an, daß die langen
weiten Ärmel ihn im Schreiben hinderten. Wenn er Abends ganz allein war, und nicht mehr fürchten
durfte, gestört zu werden, trug er gewöhnlich eine seidene Schärpe um den Leib, und er soll manchmal
einen Dolch, den er sich aus einer alten Rüstkammer zugeeignet, in den Gürtel gesteckt, und so die
ihm zugeteilten tragischen Rollen memoriert und probiert, ja in eben dem Sinne sein Gebet knieend
auf dem Teppich verrichtet haben.
Wie glücklich pries er daher in früheren Zeiten den Schauspieler, den er im Besitz so mancher
majestätischen Kleider, Rüstungen und Waffen, und in steter Übung eines edlen Betragens sah, dessen
Geist einen Spiegel des herrlichsten und prächtigsten, was die Welt an Verhältnissen, Gesinnungen und
Leidenschaften hervorgebracht, darzustellen schien. Eben so dachte sich Wilhelm auch das häusliche
Leben eines Schauspielers als eine Reihe von würdigen Handlungen und Beschäftigungen, davon die
Erscheinung auf dem Theater die äußerste Spitze sei. Etwa wie ein Silber, das vom Läuter-Feuer lange
herum getrieben worden, endlich farbig schön vor den Augen des Arbeiters erscheint, und ihm zugleich
andeutet, daß das Metall nunmehr von allen fremden Zusätzen gereiniget sei."

[ Wilhelm + Mariane]
"Für den Anfang habe ich Geld genug, wir wollen teilen, es wird für uns beide hinreichen; ehe das
verzehrt ist, wird der Himmel weiterhelfen.
Ja, Liebste, es ist mir gar nicht bange. Was mit so viel Fröhlichkeit begonnen wird, muß ein
glückliches Ende erreichen. Ich habe nie gezweifelt, daß man sein Fortkommen in der Welt finden
könne, wenn es einem Ernst ist, und ich fühle Mut genug für zwei, ja für mehrere einen reichlichen
Unterhalt zu gewinnen. Die Welt ist undankbar, sagen viele, ich habe noch nicht gefunden, daß sie
undankbar sei, wenn man auf die rechte Art etwas für sie zu tun weiß. Mir glüht die ganze
Seele bei dem Gedanken, endlich einmal aufzutreten und den Menschen in das Herz hinein zu reden,
was sie sich so lange zu hören sehnen. Wie tausendmal ist es freilich mir, der ich von der
Herrlichkeit des Theaters so eingenommen bin, bang durch die Seele gegangen, wenn ich die
elendesten gesehen habe sich einbilden, sie könnten uns ein großes treffliches Wort ans Herz reden.
Ein Ton, der durch die Fistel gezwungen wird, klingt viel besser und reiner; es ist unerhört, wie
sich diese Bursche in ihrer groben Ungeschicklichkeit versündigen.
Das Theater hat oft einen Streit mit der Kanzel gehabt, sie sollten, dünkt mich, nicht mit einander
hadern. Wie sehr wäre zu wünschen, daß an beiden Orten nur durch edle Menschen Gott und Natur
verherrlicht würden!
Es sind keine Träume meine Liebste. Wie ich an deinem Herzen habe fühlen können, daß du in Liebe
bist; so ergreife ich auch den glänzenden Gedanken und sage - ich wills nicht aussagen, aber hof-
fen will ich, daß wir einst als ein Paar gute Geister den Menschen erscheinen werden, ihre Herzen
aufzuschließen, ihre Gemüter zu berühren und ihnen himmlische Genüsse zu bereiten, so gewiß mir
an deinem Busen Freuden gewährt waren, die immer himmlisch genannt werden müssen, weil wir uns in
jenen Augenblicken aus uns selbst gerückt, über uns selbst erhaben fühlen."

[Dialog: Wilhelm und ein Fremder, in Erinnerung an eine Kunstsammlung von Wilhelms Großvater]
"Sind Sie nicht ein Enkel des alten Meisters, der die schöne Kunstsammlung besaß? fragte der Fremde.
(Wilhelm) Ja ich bins, ich war zehn Jahre als der Großvater starb, und es schmerzte mich lebhaft,
die schönen Sachen verkaufen zu sehen."

(Fremde) "Es tut mir leid, daß dieser Ort eine solche Zierde verloren hat, als das Cabinet Ihres
Großvaters war. Ich sah es noch kurz vorher, ehe es verkauft wurde, und ich darf wohl sagen,
ich war Ursache, daß der Kauf zu Stande kam.
Ein reicher Edelmann, ein großer Liebhaber, der aber bei so einem wichtigen Handel sich nicht
allein auf sein eigenes Urteil verließ, hatte mich hierher geschickt, und verlangte meinen Rat.
Sechs Tage besah ich das Cabinet und am siebenten riet ich meinem Freunde, die ganze gefor-
derte Summe ohne Anstand zu bezahlen.
Sie waren als ein munterer Knabe oft um mich herum; Sie erklärten mir die Gegenstände der
Gemälde, und wußten überhaupt das Cabinet recht gut auszulegen.
(Wilhelm) Ich erinner mich einer solchen Person, aber in Ihnen hätte ich sie nicht wieder erkannt.
(Fremde) Es ist auch schon eine Zeit, in der wir uns mehr oder weniger verändern.
Sie hatten, wenn ich mich recht erinnere, ein Lieblings-Bild darunter, von dem Sie mich gar
nicht weglassen wollten.
(Wilhelm) Ganz richtig, es stellte die Geschichte vor, wie der kranke Königssohn sich über
die Braut seines Vaters in Liebe verzehrt.
(Fremde) Es war eben nicht das Beste Gemälde, nicht gut zusammengesetzt, von keiner sonder-
lichen Farbe und die Ausführung durchaus manieriert.
(Wilhelm) Das verstand ich nicht, und versteh es noch nicht; der Gegenstand ist es, der mich an
einem Gemälde reizt, nicht die Kunst.
(Fremde) Da schien ihr Großvater anders zu denken; denn der größte Teil seiner Sammlung be-
stand aus trefflichen Sachen, in denen man immer das Verdienst ihres Meisters bewunderte, sie
mochten vorstellen was sie wollten; auch hing dieses Bild in dem äußersten Vorsaale, zum Zei-
chen, daß er es wenig schätzte.
(Wilhelm) Da war es eben, wo wir Kinder immer spielen durften, und wo dieses Bild einen un-
auslöschlichen Eindruck auf mich machte, den mir selbst Ihre Kritik, die ich übrigens verehre,
nicht auslöschen könnte, wenn wir auch jetzt vor dem Bilde stünden."

(Fremde) "Diese Gefühle sind freilich sehr weit von jenen Betrachtungen entfernt, unter denen ein
Kunstliebhaber die Werke großer Meister anzusehen pflegt; wahrscheinlich würde Ihnen aber,
wenn das Cabinet ein Eigentum Ihres Hauses geblieben wäre, nach und nach der Sinn für die
Werke selbst aufgegangen sein, so daß Sie nicht immer nur sich selbst und Ihre Neigung in den
Kunstwerken gesehn hätten.
(Wilhelm) Gewiß tat mir der Verkauf des Cabinettes gleich sehr leid, und ich habe es auch in rei-
fern Jahren öfters vermißt; wenn ich aber bedenke, daß es gleichsam so sein mußte, um eine
Liebhaberei, um ein Talent in mir zu entwickeln, die weit mehr auf mein Leben wirken sollten,
als jene leblosen Bilder je getan hätten; so bescheide ich mich denn gern, und verehre das Schick-
sal das mein Bestes und eines jeden Bestes einzuleiten weiß.
(Fremde) Leider höre ich schon wieder das Wort Schicksal von einem jungen Manne ausspre-
chen, der sich eben in einem Alter befindet, wo man gewöhnlich seinen lebhaften Neigungen den
Willen höherer Wesen unterzuschieben pflegt.
(Wilhelm) So glauben Sie kein Schicksal? Keine Macht, die über uns waltet, und alles zu un-
serm Besten lenkt?
(Fremde) Es ist hier die Rede nicht von meinem Glauben, noch der Ort auszulegen, wie ich mir Din-
ge, die uns allen unbegreiflich sind, einigermaßen denkbar zu machen suche; hier ist nur die Frage,
welche Vorstellungsart zu unserm Besten gereicht. Das Gewebe dieser Welt ist aus Notwendigkeit
und Zufall gebildet, die Vernunft des Menschen stellt sich zwischen beide, und weiß sie zu
beherrschen, sie behandelt das Notwendige als den Grund ihres Daseins, das Zufällige weiß sie
zu lenken, zu leiten und zu nutzen, und nur, indem sie fest und unerschüttlich steht, verdient
der Mensch ein Gott der Erde genannt zu werden. Wehe dem, der sich von Jugend auf gewöhnt, in
dem Notwendigen etwas Willkürliches finden zu wollen, der dem Zufälligen eine Art von Vernunft
zuschreiben möchte, welcher zu folgen sogar eine Religion sei.
Heißt das etwas weiter, als seinem eignem Verstande entsagen, und seinen Neigungen unbedingten
Raum geben? Wir bilden uns ein, fromm zu sein, indem wir ohne Überlegung hinschlendern, uns
durch angenehme Zufälle determinieren lassen, und endlich dem Resultate eines solchen schwan-
kenden Lebens den Namen einer göttlichen Führung geben.
(Wilhelm) Waren Sie niemals in dem Falle, daß ein kleiner Umstand Sie veranlaßte, einen gewissen
Weg einzuschlagen, auf welchem bald eine gefällige Gelegenheit Ihnen entgegen kam, und eine Reihe
von unerwarteten Vorfällen Sie endlich ans Ziel brachte, das Sie selbst noch kaum ins Auge
gefaßt hatten? Sollte das nicht Ergebenheit in das Schicksal, Zutrauen zu einer solchen Leitung
einflößen? -
(Fremde) Mit diesen Gesinnungen könnte kein Mädchen ihre Tugend, niemand sein Geld im Beutel
behalten; denn es gibt Anlässe genug, beides los zu werden. Ich kann mich nur über den Menschen
freuen, der weiß, was ihm und andern nütze ist, und seine Willkür zu beschränken arbeitet.
Jeder hat sein eigen Glück unter den Händen, wie der Künstler eine rohe Materie, die er zu
einer Gestalt umbilden will.
Aber es ist mit dieser Kunst wie mit allen, nur die Fähigkeit dazu wird uns angeboren, sie will
gelernt und sorgfältig ausgeübt sein.
Dieses und mehreres wurde noch unter ihnen abgehandelt; endlich trennten sie sich, ohne daß sie
einander sonderlich überzeugt zu haben schienen [...]."

************************************** 2. Buch *********************************

[Wilhelm - im Trennungsschmerz von Mariane - später Werner dazu]
"Nunmehr machte er sich selbst die bittersten Vorwürfe, daß er, nach so großem Verlust, noch
einen schmerzlosen, ruhigen, gleichgültigen Augenblick haben könne. Er verachtete sein Herz,
und sehnte sich nach dem Labsal des Jammers und der Tränen."

"Gewöhnt, auf diese Weise sich selbst zu quälen, griff er nun auch das übrige, was ihm nach
der Liebe und mit der Liebe die größten Freuden und Hoffnungen gegeben hatte, sein Talent
als Dichter und Schauspieler, mit hämischer Kritik von allen Seiten an. Er sah in seinen
Arbeiten nichts als eine geistlose Nachahmung einiger hergebrachten Formen, ohne innern
Wert; er wollte darin nur steife Schulexerzitien erkennen, denen es an jedem Funken von
Naturell, Wahrheit und Begeisterung fehle. In seinen Gedichten fand er nur ein monotones
Sylbenmaß, in welchem, durch einen armseligen Reim zusammen gehalten, ganz gemeine
Gedanken und Empfindungen sich hinschleppten, und so benahm er sich auch jede Aussicht,
jede Lust, die ihn von dieser Seite noch allenfalls hätte wieder aufrichten können.
Seinem Schauspieler-Talente ging es nicht besser. Er schalt sich, daß er nicht früher die
Eitelkeit entdeckt, die allein dieser Anmaßung zum Grunde gelegen. Seine Figur, sein Gang,
seine Bewegung und Deklamation mußten herhalten, und so sprach er sich jede Art von Vorzug,
jedes Verdienst, das ihn über das Gemeine empor gehoben hätte, entscheidend ab, und vermehrte
seine stumme Verzweiflung dadurch auf den höchsten Grad.
Denn, wenn es hart ist, der Liebe eines Weibes zu entsagen, so ist die Empfindung nicht weniger
schmerzlich, von dem Umgang der Musen sich los zu reißen, sich ihrer Gemeinschaft auf immer
unwürdig zu erklären, und auf den schönsten und nächsten Beifall, der unsrer Person, unserm
Betragen, unsrer Stimme öffentlich gegeben wird, Verzicht zu tun."

"Er war froh, auf dem Wege des Lebens sich bei Zeiten, obgleich unfreundlich genug, gewarnt
zu sehen, anstatt daß andere später und schwerer die Mißgriffe büßen, wozu sie ein jugendlicher
Dünkel verleitet hat.
Denn gewöhnlich wehrt sich der Mensch so lange als er kann, den Toren, den er im Busen hegt,
zu verabschieden, einen Hauptirrtum zu bekennen, und eine Wahrheit einzugestehen, die ihn
zur Verzweiflung bringt.
So entschlossen er war, seinen liebsten Vorstellungen zu entsagen, so war doch einige Zeit nötig,
um ihn von seinem Unglücke völlig zu überzeugen. Endlich aber hatte er jede Hoffnung der Lie-
be, des poetischen Hervorbringens und der persönlichen Darstellung, mit triftigen Gründen, so
ganz in sich vernichtet, daß er Mut faßte, alle Spuren seiner Torheit, alles, was ihn irgend noch
daran erinnern könnte, völlig auszulöschen.
Er hatte daher an einem kühlen Abende ein Kaminfeuer angezündet, und holte ein Reliquien-
kästchen hervor, in welchem sich hunderterlei Kleinigkeiten fanden, die er in bedeutenden Augen-
blicken von Marianen erhalten, oder derselben geraubt hatte."

"Nicht ohne Bewegung sah er daher diese so lange bewahrten Heiligtümer nach einander in
Rauch und Flamme vor sich aufgehen. Einigemal hielt er zaudernd inne, und hatte noch eine
Perlenschnur und ein flornes Halstuch übrig, als er sich entschloß, mit den dichterischen
Versuchen seiner Jugend das abnehmende Feuer wieder aufzufrischen.
Bis jetzt hatte er alles sorgfältig aufgehoben, was ihm, von der frühsten Entwicklung seines
Geistes an, aus der Feder geflossen war. Noch lagen seine Schriften in Bündel gebunden
auf dem Boden des Koffers, wohin er sie gepackt hatte, als er sie auf seiner Flucht
mitzunehmen hoffte. Wie ganz anders eröffnete er sie jetzt, als er sie damals zusammen band!
Wenn wir einen Brief, den wir unter gewissen Umständen geschrieben und gesiegelt haben, der
aber den Freund, an den er gerichtet war, nicht antrifft, sondern wieder zu uns zurück gebracht
wird, nach einiger Zeit eröffnen, überfällt uns eine sonderbare Empfindung, indem wir unser eignes
Siegel erbrechen, und uns mit unsern veränderten Selbst wie mit einer dritten Person unterhalten.
Ein ähnliches Gefühl ergriff mit Heftigkeit unsern Freund, als er das erste Paket eröffnete,
die zerteilten Hefte ins Feuer warf, die eben gewaltsam aufloderten, als Werner hereintrat, sich
über die lebhafte Flamme verwunderte, und fragte, was hier vorgehe?
Ich gebe einen Beweis, sagte Wilhelm, daß es mir ernst sei, ein Handwerk aufzugeben, wozu ich
nicht geboren ward; und mit diesen Worten warf er das zweite Paket in das Feuer."
Werner wollte ihn abhalten, allein es war geschehen.
Ich sehe nicht ein, wie du zu diesem Extrem kommst, sagte dieser. Warum sollen denn nun diese
Arbeiten, wenn sie nicht vortrefflich sind, gar vernichtet werden?
Weil ein Gedicht entweder vortrefflich sein, oder gar nicht existieren soll. Weil jeder, der
keine Anlage hat, das Beste zu leisten, sich der Kunst enthalten, und sich vor jeder Verführung
dazu ernstlich in Acht nehmen sollte. Denn freilich regt sich in jedem Menschen ein gewisses
unbestimmtes Verlangen, dasjenige was er sieht, nachzuahmen; aber dieses Verlangen beweist gar
nicht, daß auch in uns die Kraft wohne, mit dem, was wir unternehmen, zu Stande zu kommen."

"Wie viele irren auf diesem Wege herum; glücklich, wer den Fehlschluß von seinen Wünschen auf
seine Kräfte bald gewahr wird!"

"Wie sehr irrst du, lieber Freund (Werner), wenn du glaubst, daß ein Werk, dessen erste Vorstellung
die ganze Seele füllen muß, in unterbrochenen, zusammen gegeizten Stunden könne hervorgebracht
werden. Nein, der Dichter muß ganz sich, ganz in seinen geliebten Gegenständen leben. Er, der
vom Himmel innerlich auf das köstlichste begabt ist, der einen, sich immer selbst vermehrenden
Schatz im Busen bewahrt, er muß auch von außen ungestört mit seinen Schätzen in der stillen
Glückseligkeit leben, die eine Reicher vergebens mit aufgehäuften Gütern um sich hervorzubringen
sucht.
Sieh die Menschen an, wie sie nach Glück und Vergnügen rennen! Ihre Wünsche, ihre Mühe, ihr Geld
jagen rastlos, und wornach? Nach dem, was der Dichter von der Natur erhalten hat, nach dem Genuß
der Welt, nach dem Mitgefühl seiner selbst in andern, nach einem harmonischen Zusammensein mit
vielen oft unvereinbaren Dingen.
Was beunruhiget die Menschen, als daß sie ihre Begriffe nicht mit den Sachen verbinden können, daß
der Genuß sich ihnen unter den Händen wegstiehlt, daß das gewünschte zu spät kommt, und daß alles
erreichte und erlangte auf ihr Herz nicht die Wirkung tut, welche die Begierde uns in der Ferne
ahnden läßt. Gleichsam wie einen Gott hat das Schicksal den Dichter über dieses alles hinüber gesetzt.
Er sieht das Gewirre der Leidenschaften, Familien und Reiche sich zwecklos bewegen, er sieht die
unauflöslichen Rätsel der Mißverständnisse, denen oft nur ein einsylbiges Wort zu Entwicklung
fehlt, unsäglich verderbliche Verwirrungen verursachen. Er fühlt das Traurige und das Freudige
jedes Menschenschicksals mit. Wenn der Weltmensch in einer abzehrenden Melancholie über großen
Verlust seine Tage hinschleicht, oder in ausgelassener Freude seinem Schicksale entgegen geht,
so schreitet die empfängliche leichtbewegliche Seele des Dichters, wie die wandelnde Sonne, von
Nacht zu Tag fort, und mit leisen Übergängen stimmt seine Harfe zu Freude und Leid.
Eingeboren auf den Grund seines Herzens wächst die schöne Blume der Weisheit hervor, und wenn
die andern wachend träumen, und von ungeheuren Vorstellungen aus allen ihren Sinnen geängstigt
werden, so lebt er den Traum des Lebens als ein wachender, und das seltenste, was geschieht,
ist ihm zugleich Vergangenheit und Zukunft. Und so ist der Dichter zugleich Lehrer, Wahrsager,
Freund der Götter und der Menschen. Wie! willst du, daß er zu einem kümmerlichen Gewerbe
herunter steige, er, der wie ein Vogel gebaut ist, um die Welt zu überschweben, auf hohen
Gipfeln zu nisten, und seine Nahrung von Knospen und Früchten, einen Zweig mit dem anderen leicht
verwechselnd, zu nehmen, der sollte zugleich wie der Stier am Pfluge ziehen, wie der Hund sich
auf eine Fährte gewöhnen, oder vielleicht gar an die Kette geschlossen einen Meierhof durch
sein Bellen sichern?"

"So haben die Dichter in Zeiten gelebt, wo das Ehrwürdige mehr erkannt ward, rief Wilhelm aus,
und so sollten sie immer leben. Genugsam in ihrem Innersten ausgestattet bedurften sie wenig
von außen; die Gabe, schöne Empfindungen, herrliche Bilder den Menschen in süßen, sich an jeden
Gegenstand anschmiegenden, Worten und Melodien mitzuteilen, bezauberte von jeher die Welt, und
war für den Begabten ein reichliches Erbteil.
An der Könige Höfen, an den Tischen der Reichen, vor den Türen der Verliebten horchte man auf sie,
indem sich das Ohr und die Seele für alles andere verschloß; wie man sich selig preist und entzückt
stille steht, wenn aus den Gebüschen, durch die man wandelt, die Stimme der Nachtigall gewaltig
rührend hervordringt! Sie fanden eine gastfreie Welt, und ihr niedrig scheinender Stand erhöhte sie
nur desto mehr; der Held lauschte ihren Gesängen, und der Überwinder der Welt huldigte einem
Dichter, weil er fühlte, daß, ohne diesen, sein ungeheures Dasein nur wie ein Sturmwind vorüberfahren
würde; der Liebende wünschte sein Verlangen und seinen Genuß so tausendfach und so harmonisch zu fühlen,
als ihn die beseelte Lippe zu schildern verstand, und selbst der Reiche konnte seine Besitztümer,
seine Abgötter nicht mit eigenen Augen so kostbar sehen, als sie ihm vom Glanze des, allen Wert
fühlenden und erhöhenden Geistes beleuchtet erschienen.
Ja, wer hat, wenn du willst, Götter gebildet, uns zu ihnen erhoben, sie zu uns herniedergebracht,
als der Dichter?
Mein Freund, versetzte Werner nach einigem Nachdenken, ich habe schon oft bedauert, daß du das, was
du so lebhaft fühlst, mit Gewalt aus deiner Seele zu verbannen strebst.
Ich müßte mich sehr irren, wenn du nicht besser tätest, dir selbst einigermaßen nachzugeben, als dich
durch die Widersprüche eines so harten Entsagens aufzureiben, und dir mit der Einen unschuldigen Freud
den Genuß aller übrigen zu entziehen.
Darf ich dir's gestehen, mein Freund, versetzte der andre, und wirst du mich nicht lächerlich finden,
wenn ich dir bekenne, das jene Bilder mich noch immer verfolgen, so sehr ich sie fliehe, und daß, wenn
ich mein Herz untersuche, alle frühen Wünsche fest, ja noch fester als sonst darin haften?
Doch was bleibt mir Unglücklichen gegenwärtig übrig? Ach wer mir vorausgesagt hätte, daß die
Arme meines Geistes so bald zerschmettert werden sollten, mit denen ich ins Unendliche griff, und
mit denen ich doch gewiß ein Großes zu umfassen hoffte. Wer mir das vorausgesagt hätte, würde
mich zur Verzweiflung gebracht haben."

"Es ist auch nun für mich kein Trost, keine Hoffnung mehr! Ich werde, rief er aus, indem er aufsprang,
von diesen unglückseligen Papieren keines übrig lassen. Er faßte abermals ein Paar Heft an, riß sie
auf und warf sie ins Feuer. Werner wollte ihn abhalten, aber vergebens.
Laß mich! rief Wilhelm, was sollen diese elenden Blätter? Für mich sind sie weder Stufe noch
Aufmunterung mehr. Sollen sie übrig bleiben, um mich bis ans Ende meines Lebens zu peinigen?
Sollen sie vielleicht einmal der Welt zum Gespötte dienen, anstatt Mitleiden und Schauer zu erregen?
Wehe über mich und über mein Schicksal! Nun verstehe ich erst die Klagen der Dichter, der aus Not
weise gewordnen Traurigen. Wie lange hielt ich mich für unzerstörbar, für unverwundlich, und ach!
nun seh ich, daß ein tiefer früher Schade nicht wieder auswachsen, sich nicht wieder herstellen
kann; ich fühle, daß ich ihn mit ins Grab nehmen muß."

[Wilhelm - beim Besuch eines Laientheaters]
"Es war das erste Stück, das unser Freund nach einer so langen Zeit wieder sah; er machte mancherlei
Betrachtungen; es war voller Handlung, aber ohne Schilderung wahrer Charaktere. Es gefiel und
ergötzte. So sind die Anfänge aller Schauspielkunst. Der rohe Mensch ist zufrieden, wenn er nur
etwas vorgehen sieht; der gebildete will empfinden, und Nachdenken ist nur dem ganz ausgebildeten
angenehm."

[Wilhelm + Philine, eine Schauspielerin]
"Sie haben Recht, versetzte er mit einiger Verlegenheit, der Mensch ist dem Menschen das Interessanteste,
und sollte ihn vielleicht ganz allein interessieren. Alles andere, was uns umgibt, ist entweder nur
Element, in dem wir leben, oder Werkzeug, dessen wir uns bedienen. Jemehr wir uns dabei aufhalten,
jemehr wir darauf merken und Teil daran nehmen, desto schwächer wird das Gefühl unsers eignen
Wertes und das Gefühl der Gesellschaft. Die Menschen, die einen großen Wert auf Gärten, Gebäude,
Kleidung, Schmuck oder irgend ein Besitztum legen, sind weniger gesellig und gefällig; sie
verlieren die Menschen aus den Augen, welche zu erfreuen und zu versammlen nur sehr wenigen glückt.
Sehen wir es nicht auch auf dem Theater?
Ein guter Schauspieler macht uns bald eine elende, unschickliche Dekoration vergessen, dahingegen das
schönste Theater den Mangel an guten Schauspielern erst recht fühlbar macht."

[Wilhelm - im Selbstgespräch über die bewundernswürdige Aktionskunst einer fahrenden Seiltänzergruppe]
"Welcher Schauspieler, welcher Schriftsteller, ja welcher Mensch überhaupt würde sich nicht auf dem
Gipfel seiner Wünsche sehen, wenn er durch irgend ein edles Wort oder eine gute Tat einen so
allgemeinen Eindruck hervorbrächte?
Welche köstliche Empfindung müßte es sein, wenn man gute, edle, der Menschheit würdige Gefühle eben
so schnell durch einen elektrischen Schlag ausbreiten, ein solches Entzücken unter dem Volk
erregen könnte, als diese Leute durch ihre körperliche Geschicklichkeit getan haben;
wenn man der Menge das Mitgefühl alles Menschlichen geben, wenn man sie mit der Vorstellungen des
Glücks und Unglücks, der Weisheit und Torheit, ja des Unsinns und der Albernheit entzünden, erschüttern,
und ihr stockendes Innere in freie, lebhafte und reine Bewegung setzen könnte.
So sprach unser Freund, und [...], unterhielt er sich allein mit diesen Lieblingsbetrachtungen, als
er bis spät in die Nacht um die Stadt spazierte, und seinen alten Wunsch, das Gute, Edle, Große
durch das Schauspiel zu versinnlichen, wieder einmal mit aller Lebhaftigkeit und aller Freiheit
einer losgebundenen Einbildungskraft verfolgte."

[Wilhelm - Begegnung mit einem alternden bekannten Schauspieler]
"[...];der Alte hatte sich aber wenig verändert.
Dieser spielte gewöhnlich die gutmütigen, polternden Alten, wovon das deutsche Theater nicht leer wird,
und die man auch im gemeinen Leben nicht selten antrifft. Denn da es der Charakter unsrer Landsleute
ist, das Gute ohne viel Prunk zu tun und zu leisten; so denken sie selten daran, daß es auch eine
Art gebe, das Rechte mit Zierlichkeit und Anmut zu tun, und verfallen vielmehr, von einem
Geiste des Widerspruchs getrieben, leicht in den Fehler, durch ein mürrisches Wesen, ihre liebste
Tugend im Kontraste darzustellen."

[Dialog: Wilhelm - mit einem noch unbekanntem Geistlichen während einer Schiffspassage]
(Geistliche) "Es sind wohl Schauspieler in Deutschland, deren Körper das zeigt, was sie denken und fühlen,
die durch Schweigen, Zaudern, durch Winke, durch zarte anmutige Bewegungen des Körpers eine Rede
vorzubereiten, und die Pausen des Gesprächs durch eine gefällige Pantomime mit dem Ganzen zu
verbinden wissen; aber eine Übung, die einem glücklichen Naturell zur Hülfe käme, und es
lehrte, mit dem Schriftsteller zu wetteifern, ist nicht so im Gange, als es zum Troste derer,
die das Theater besuchen, wohl zu wünschen wäre.
Sollte aber nicht, versetzte Wilhelm, ein glückliches Naturell, als das erste und letzte, einen
Schauspieler, wie jeden andern Künstler, ja vielleicht wie jeden Menschen, allein zu
einem so hochaufgesteckten Ziele bringen?
(Geistlichge) Das erste und letzte, Anfang und Ende möchte es wohl sein und bleiben; aber in der Mitte
dürfte dem Künstler manches fehlen, wenn nicht Bildung das erst aus ihm macht, was er sein soll,
und zwar frühe Bildung; denn vielleicht ist derjenige, dem man Genie zuschreibt, übler daran
als der, der nur gewöhnliche Fähigkeiten besitzt; denn jener kann leichter verbildet und viel
heftiger auf falsche Wege gestoßen werden, als dieser.
Aber, versetzte Wilhelm, wird das Genie sich nicht selbst retten, die Wunden, die es sich geschlagen,
selbst heilen?
Mit nichten, versetzte der andere, oder wenigstens nur notdürftig; denn niemand glaube die ersten
Eindrücke der Jugend verwinden zu können. Ist er in einer löblichen Freiheit, umgeben von schönen
und edlen Gegenständen, in dem Umgange mit guten Menschen aufgewachsen, haben ihn seine Meister das
gelehrt, was er zuerst wissen mußte, um das übrige leichter zu begreifen, hat er gelernt, was er
nie zu verlernen braucht, wurden seine ersten Handlungen so geleitet, daß er das Gute künftig
leichter und bequemer vollbringen kann, ohne sich irgend etwas abgewöhnen zu müssen; so wird dieser
Mensch ein reineres, vollkommneres und glücklicheres Leben führen, als ein anderer, der seine
ersten Jugendkräfte im Widerstand und im Irrtum zugesetzt hat. Es wird so viel von Erziehung gesprochen
und geschrieben, und ich sehe nur wenig Menschen, die den einfachen aber großen Begriff, der alles
andere in sich schließt, fassen und in die Ausführung übertragen können.
Das mag wohl wahr sein, sagte Wilhelm, denn jeder Mensch ist beschränkt genug, den andern zu seinem
Ebenbild erziehen zu wollen. Glücklich sind diejenigen daher, deren sich das Schicksal annimmt,
das jeden nach seiner Weise erzieht!
Das Schicksal, versetzte lächelnd der andere, ist ein vornehmer, aber teurer Hofmeister. Ich würde
mich immer lieber an die Vernunft eines menschlichen Meisters halten. Das Schicksal, für dessen
Weisheit ich alle Ehrfurcht trage, mag an den Zufall, durch den es wirkt, ein sehr ungelenkes Organ
haben. Denn selten scheint dieser genau und rein auszuführen, was jenes beschlossen hatte."

"Und ist es nicht, fuhr der andere (Geistliche) fort, mit dem , was einzelnen Menschen begegnet, eben so?"

"Gesetzt, das Schicksal hätte einen zu einem großen Maler bestimmt, und dem Zufall beliebte es, seine
Jugend in schmutzige Hütten, Ställe und Scheunen zu verstoßen, glauben Sie, daß ein solcher Mann
sich jemals zur Reinlichkeit, zum Adel, zur Freiheit der Seele erheben werde? Mit je lebhafterm
Sinne er das Unreine in seiner Jugend angefaßt, und nach seiner Art veredelt hat, desto gewaltsamer
wird es sich in der Folge seines Lebens an ihm rächen, indem es sich, inzwischen daß er es zu
überwinden suchte, mit ihm aufs innigste verbunden hat. Wer früh in schlechter unbedeutender
Gesellschaft gelebt hat, wird sich, wenn er auch später eine bessere haben kann, immer nach jener
zurücksehnen, deren Eindruck ihm, zugleich mit der Erinnerung jugendlicher, nur selten zu
wiederholender Freuden, geblieben ist."

[Wilhelm + Philine]
"Sie hatte eben heute ihren schönen, sehr schönen Tag, sie wußte mit allerlei Neckereien unsern Freund
zu beleben; es ward ihm wohl, wie es ihm lange nicht gewesen war.
Seitdem ihn jene grausame Entdeckung von der Seite Marianens gerissen hatte, war er dem Gelübde treu
geblieben, sich vor der zusammenschlagenden Falle einer weiblichen Umarmung zu hüten, das treulose
Geschlecht zu meiden, seine Schmerzen, seine Neigung, seine süßen Wünsche in seinem Busen zu verschließen
Die Gewissenhaftigkeit, womit er dies Gelübde beobachtete, gab seinem ganzen Wesen eine geheime
Nahrung, und wenn sein Herz nicht ohne Teilnehmung bleiben konnte, so ward eine liebevolle Mitteilung
nun zum Bedürfnisse. Er ging wieder wie von dem ersten Jugendnebel begleitet umher, seine
Augen faßten jeden reizenden Gegenstand mit Freuden auf, und nie war sein Urteil über eine
liebenswürdige Gestalt schonender gewesen. Wie gefährlich ihm in einer solchen Lage das
verwegene Mädchen werden mußte, läßt sich leider nur zu gut einsehen.

[Wilhelm - Leseprobe mit der fahrenden Theatergesellschaft]
Zu Hause fanden sie auf Wilhelms Zimmer schon alles zum Empfang bereit, die Stühle zu einer Vorlesung
zurechte gestellt, und den Tisch in die Mitte gesetzt, auf welchem der Punschnapf seinen Platz
nehmen sollte."

"Der Vorleser (Wilhelm) tat sein Möglichstes, und die Gesellschaft kam ganz außer sich. Zwischen dem
zweiten und dritten Akte kam der Punsch in einem großen Napfe, und da in dem Stücke selbst sehr viel
getrunken und angestoßen wurde; so war nichts natürlicher, als daß die Gesellschaft, bei jedem solchen
Falle, sich lebhaft an den Platz der Helden versetzte, gleichfalls anstieß, und die Günstlinge
unter den handelnden Personen hoch leben ließ.
Jedermann war von dem Feuer des edelsten Nationalgeistes entzündet. Wie sehr gefiel es dieser deutschen
Gesellschaf, sich, ihrem Charakter gemäß, auf eignem Grund und Boden poetisch zu ergötzen."

"Indessen war die Scharwache herbei gekommen, und verlangte ins Haus eingelassen zu werden.
Wilhelm, vom Lesen sehr erhitzt, ob er gleich nur wenig getrunken, hatte genug zu tun, um mit Beihülfe
des Wirts die Leute durch Geld und gute Worte zu befriedigen, und die Glieder der Gesellschaft
in ihren mißlichen Umständen nach Hause zu schaffen. Er warf sich, als er zurück kam, vom
Schlafe überwältigt, voller Unmut, unausgekleidet aufs Bette, und nichts glich der unangenehmen
Empfindung, zu der er des andern Morgens erwachte, und, als er die Augen aufschlug, mit düsterm Blick
auf die Verwüstungen des vergangenen Tages, den Unrat und die bösen Wirkungen hinsah, die ein
geistreiches, lebhaftes und wohlgemeintes Dichterwerk hervorgebracht hatte."

[Die vorherige Gesellschaft + ein alter Harfenspieler]
"Die angenehmen Töne, die er aus dem Instrumente hervorlockte, erheiterten gar bald die Gesellschaft.
Ihr pflegt auch zu singen, guter Alter, sagte Philine.
Gebt uns etwas, das Herz und Geist zugleich mit den Sinnen ergötze, sagte Wilhelm. Das Instrument
sollte nur die Stimme begleiten; denn Melodien, Gänge und Läufe ohne Worte und Sinn, scheinen mir
Schmetterlingen oder schönen bunten Vögeln ähnlich zu sein, die in der Luft vor unsern Augen
herum schweben, die wir allenfalls haschen und uns zueignen mögten; da sich der Gesang dagegen wie ein
Genius gen Himmel hebt, und das bessere Ich in uns ihn zu begleiten anreizt."

[Wilhelm + Friedrich - ein knabenhafter Verehrer Philines]
"Da bin ich wieder! rief er aus, indem er seine großen blauen Augen freudig umher und hinauf an alle
Fenster gehen ließ; wo ist Mamsell? Der Henker mag es länger in der Welt aushalten, ohne sie zu sehen!
Der Wirt, der eben dazu getreten war, versetzte, sie ist oben, und mit wenigen Sprüngen war er die
Treppe hinauf, und Wilhelm blieb wie auf der Schwelle eingewurzelt stehen.
Er hätte in den ersten Augenblicken den Jungen bei den Haaren rückwärts die Treppe herunterreißen mögen;
dann hemmte der heftige Krampf einer gewaltsamen Eifersucht auf einmal den Lauf seiner Lebensgeister und
seiner Ideen, und da er sich nach und nach von seiner Erstarrung erholte, überfiel ihn eine Unruhe,
ein Unbehagen, dergleichen er in seinem Leben noch nicht empfunden hatte."

[Wilhelm + der Harfenspieler]
"Wir würden zu weitläufig werden, und doch die Anmut der seltsamen Unterredung nicht ausdrucken
können, die unser Freund mit dem abenteuerlichen Fremden hielt. Auf alles, was der Jüngling zu ihm
sagte, antwortete der Alte mit der reinsten Übereinstimmung durch Anklänge, die alle verwandte
Empfindungen rege machten, und der Einbildungskraft ein weites Feld eröffneten.
Wer einer Versammlung frommer Menschen, die sich abgesondert von der Kirche, reiner, herzlicher
und geistreicher zu erbauen glauben, beigewohnt hat, wird sich auch einen Begriff von der
gegenwärtigen Szene machen können; er wird sich erinnern, wie der Liturg seinen Worten den
Vers eines Gesanges anzupassen weiß, der die Seele dahin erhebt, wohin der Redner wünscht, daß sie
ihren Flug nehmen möge, wie bald darauf ein anderer aus der Gemeinde, in einer andern Melodie, den
Vers eines andern Liedes hinzufügt, und an diesen wieder ein dritter einen dritten anknüpft, wodurch die
verwandten Ideen der Lieder, aus denen sie entlehnt sind, zwar erregt werden, jede Stelle aber
durch die neue Verbindung neu und individuell wird, als wenn sie in dem Augenblicke erfunden worden wäre;
wodurch denn aus einem bekannten Kreise von Ideen, aus bekannten Liedern und Sprüchen, für diese
besondere Gesellschaft, für diesen Augenblick ein eigenes Ganze entsteht, durch dessen Genuß
sie belebt, gestärkt und erquickt wird. So erbaute der Alte seinen Gast, indem er, durch bekannte
und unbekannte Lieder und Stellen, nahe und ferne Gefühle, wachende und schlummernde, angenehme
und schmerzliche Empfindungen in eine Zirkulation brachte, von der in dem gegenwärtigen Zustande
unsers Freundes das Beste zu hoffen war."

[Wilhelm]
"Er erinnerte sich der Zeit, in der sein Geist durch ein unbedingtes hoffnungsreiches Streben em-
por gehoben wurde, wo er in dem lebhaftesten Genusse aller Art, wie in einem Elemente schwamm.
Es ward ihm deutlich, wie er jetzt in ein unbestimmtes Schlendern geraten war, in welchem
er nur noch schlürfend kostete, was er sonst mit vollen Zügen eingesogen hatte; aber deutlich konn-
te er nicht sehen, welches unüberwindliche Bedürfnis ihm die Natur zum Gesetz gemacht hatte, und
wie sehr dieses Bedürfnis durch Umstände nur gereizt, halb befriedigt und irre geführt worden war.
Es darf also niemand wundern, wenn er bei Betrachtung seines Zustandes, und indem er sich aus
demselben heraus zu denken arbeitete, in die größte Verwirrung geriet. Es war nicht genug, daß er
[...], länger als billig an einem Orte und in einer Gesellschaft festgehalten wurde,
in welcher er seine Lieblingsneigung hegen, gleichsam verstohlen seine Wünsche befriedigen, und
ohne sich einen Zweck vorzusetzen, seinen alten Träumen nachschleichen konnte.
Aus diesen Verhältnissen sich los zu reißen, und gleich zu scheiden, glaubte er Kraft genug zu
besitzen."

"Ich muß fort, rief er aus, ich will fort! Er warf sich in einen Sessel, und war sehr bewegt."

************************************** 3. Buch *********************************

[Wilhelm und Mignon, ein kleines Mädchen der Seiltanztruppe
beim Vortrag des Liedes "Kennst du das Land? wo die Zitronen blühn, [...]."]
"Melodie und Ausdruck gefielen unserm Freunde besonders, ob er gleich die Worte nicht alle
verstehen konnte. Er ließ sich die Strophen wiederholen und erklären, schrieb sie auf und
übersetzte sie ins Deutsche. Aber die Originalität der Wendungen konnte er nur von ferne
nachahmen. Die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand, indem die gebrochene Sprache
übereinstimmend, und das Unzusammenhängende verbunden ward. Auch konnte der Reiz der
Melodie mit nichts verglichen werden.
Sie fing jeden Vers feierlich und prächtig an, als ob sie auf etwas sonderbares aufmerksam ma-
chen, als ob sie etwas wichtiges vortragen wollte.
Bei der dritten Zeile ward der Gesang dumpfer und düsterer, das: kennst du es wohl?
drückte sie geheimnisvoll und bedächtig aus, in dem: dahin! dahin! lag eine unwiderstehliche
Sehnsucht, und ihr: Laß uns ziehn! wußte sie, bei jeder Wiederholung, dergestalt zu modifizieren,
daß es bald bittend und dringend, bald treibend und vielversprechend war."

[Beide Vorherigen + Philine + die Gräfin]
"Indessen sagte Philine zur Gräfin: es ist noch ein recht hübscher junger Mann oben, der sich gewiß
bald zum ersten Liebhaber qualifizieren würde.
Warum läßt er sich nicht sehen? versetzte die Gräfin. Ich will ihn holen, rief Philine, und eilte zur
Tür hinaus.
Sie fand Wilhelmen noch mit Mignon beschäftigt, und beredete ihn mit hinunter zu gehen.
Er folgte ihr mit einigem Unwillen, doch trieb ihn die Neugier; denn da er von vornehmen Personen
hörte, war er voll Verlangen, sie näher kennen zu lernen. Er trat ins Zimmer, und seine Augen
begegneten sogleich den Augen der Gräfin, die auf ihn gerichtet waren."

"Wilhelm neigte sich, und gab auf verschiedene Fragen, welche die reizende Dame an ihn tat,
nicht ohne Verwirrung Antwort. Ihre Schönheit, Jugend, Anmut, Zierlichkeit und feines Betragen
machten den angenehmsten Eindruck auf ihn, um so mehr, da ihre Reden und Gebärden mit einer
gewissen Schamhaftigkeit, ja man dürfte sagen, Verlegenheit, begleitet waren."

[Wilhelm + Melina + ein Baron]
"Über Wilhelmen sprach Melina den Baron im vorbeigehen, und versicherte, daß er sich sehr gut
zum Theaterdichter qualifiziere, und zum Schauspieler selbst keine üble Anlagen habe.
Der Baron machte sogleich mit ihm als einen Kollegen Bekanntschaft und Wilhelm produzierte
einige kleine Stücke, die nebst wenigen Reliquien an jenem Tage, als er den größten Teil seiner
Arbeiten in Feuer aufgehen ließ, durch einen Zufall gerettet wurden."

"Wilhelm ging indessen mit sich zu Rate, ob er die (Theater) Gesellschaft auf das Schloß
begleiten solle? und fand in mehr als einem Sinne rätlich dahin zu gehen. Melina hoffte bei diesem
vorteilhaften Engagement seine Schuld wenigstens zum Teil abtragen zu können, und unser Freund,
der auf Menschenkenntnis ausging, wollte die Gelegenheit nicht versäumen, die große Welt näher
kennen zu lernen, in der er viele Aufschlüsse über das Leben, über sich selbst und die Kunst
zu erlangen hoffte.
Dabei durfte er sich nicht gestehen, wie sehr er wünsche, der schönen Gräfin wieder näher zu
kommen. Er suchte sich vielmehr im Allgemeinen zu überzeugen, welchen großen Vorteil ihm
die nähere Kenntnis der vornehmen und reichen Welt bringen würde.
Er machte seine Betrachtungen über den Grafen, die Gräfin, den Baron, über die Sicherheit,
Bequemlichkeit und Anmut ihres Betragens, und rief, als er allein war, mit Entzücken aus:
Dreimal glücklich sind diejenigen zu preisen, die ihre Geburt sogleich über die untern Stufen
der Menschheit hinaus hebt; die durch jene Verhältnisse, in welchen sich manche gute Menschen
die ganze Zeit ihres Lebens abängstigen, nicht durchzugehen, auch nicht einmal darin als
Gäste zu verweilen brauchen. Allgemein und richtig muß ihr Blick auf dem höheren Standpunkte
werden, leicht ein jeder Schritt ihres Lebens! Sie sind von Geburt an gleichsam in ein Schiff
gesetzt, um bei der Überfahrt, die wir alle machen müssen, sich des günstigen Windes zu bedienen,
und den widrigen abzuwarten, anstatt daß andere nur für ihre Person schwimmend sich
abarbeiten, vom günstigen Winde wenig Vorteil genießen, und im Sturme mit bald erschöpften
Kräften untergehen. Welche Bequemlichkeit, welche Leichtigkeit gibt ein angebornes Vermögen!
und wie sicher blühet ein Handel, der auf ein gutes Kapital gegründet ist, so daß nicht jeder
mißlungene Versuch sogleich in Untätigkeit versetzt! Wer kann den Wert und Unwert irdischer
Dinge besser kennen, als der sie zu genießen von Jugend auf im Falle war, und wer kann seinen
Geist früher auf das Notwendige, das Nützliche, das Wahre leiten, als der sich von so vielen
Irrtümern in einem Alter überzeugen muß, wo es ihm noch an Kräften nicht gebricht, ein neues Leben
anzufangen.
So rief unser Freund allen denjenigen Glück zu, die sich in den höheren Regionen befinden; aber
auch denen, die sich einem solchen Kreise nähern, aus diesen Quellen schöpfen können, und pries
seinen Genius, der Anstalt machte, auch ihn diese Stufen hinan zu führen."

"Der Baron hatte Wilhelmen einige Tage mit der Hoffnung hingehalten, daß er der Gräfin noch be-
sonders vorgestellt werden sollte. - Ich habe, sagte er, dieser vortrefflichen Dame so viel von
Ihren geistreichen und empfindungsvollen Stücken erzählt, daß sie nicht warten kann, Sie zu sprechen
und sich ein und das andere vorlesen zu lassen. Halten Sie sich ja gefaßt auf den ersten Wink
hinüber zu kommen, denn bei dem nächsten ruhigen Morgen werden Sie gewiß gerufen werden.
Er bezeichnete ihm darauf das Nachspiel, welches er zuerst vorlesen sollte, wodurch er sich ganz
besonders empfehlen würde."

"Mit großer Sorgfalt nahm darauf Wilhelm das Stück vor, womit er seinen Eintritt in die große
Welt machen sollte. Du hast, sagte er, bisher im Stillen für dich gearbeitet, nur von einzelnen
Freunden Beifall erhalten; du hast eine Zeit lang ganz an deinem Talente verzweifelt, und du mußt
immer noch in Sorgen sein, ob du dann auch auf dem rechten Wege bist, und ob du so viel Talent
als Neigung zum Theater hast? Vor den Ohren solcher geübten Kenner, im Kabinette, wo keine
Illusion statt findet, ist der Versuch weit gefährlicher als anderwärts, und ich möchte doch
auch nicht gerne zurück bleiben, diesen Genuß an meine vorigen Freuden knüpfen, und die Hoffnung
auf die Zukunft erweitern.
Er nahm darauf einige Stücke durch, las sie mit der größten Aufmerksamkeit, korrigierte hier und
da, rezitierte sie sich laut vor, um auch in Sprache und Ausdruck recht gewandt zu sein, und steckte
dasjenige, welches er am meisten geübt, womit er die größte Ehre einzulegen glaubte, in die
Tasche, als er an einem Morgen hinüber vor die Gräfin gefordert wurde."

[Wilhelm - Melina, im Gespräch vor einer Theateraufführung vor dem Fürsten]
"Herzlich gerne, versetzte Wilhelm, trage ich etwas zum Vergnügen dieser vortrefflichen Herrschaft
bei, und meine Muse hat noch kein so angenehmes Geschäft gehabt, als zum Lob eines Fürsten,
der so viel Verehrung verdient, auch nur stammelnd sich hören zu lassen. Ich will der Sache nachdenken,
vielleicht gelingt es mir, unsere kleine Truppe so zu stellen, daß wir doch wenigstens einigen
Effekt machen.
Von diesem Augenblicke an sann Wilhelm eifrig dem Auftrage nach. Ehe er einschlief, hatte er alles
schon ziemlich geordnet, und den andern Morgen, bei früher Zeit, war der Plan fertig, die
Szenen entworfen, ja schon einige der vornehmsten Stellen und Gesänge in Verse und zu
Papiere gebracht."

"Befeuert durch den aufrichtigen Anteil, den die Frauenzimmer an der Sache nahmen, ward der Plan,
der ihm durch die Erzählung gegenwärtiger geworden war, ganz lebendig. Er brachte den größten Teil
der Nacht und den anderen Morgen mit der sorgfältigsten Versifikation des Dialogs und der Lieder
zu."

"Wilhelmen verdroß gar sehr, bei seinen anhaltenden Bemühungen des erwünschten Beifalls zu
entbehren. Bei der Auswahl der Stücke, der Abschrift der Rollen, den häufigen Proben, und was
sonst nur immer vorkommen konnte, ging er Melinen eifrig zur Hand, der ihn denn auch, seine eigene
Unzulänglichkeit im stillen fühlend, zuletzt gewähren ließ. Die Rollen memorierte Wilhelm mit
Fleiß, und trug sie mit Wärme und Lebhaftigkeit, und mit so viel Anstand vor, als die wenige
Bildung erlaubte, die er sich selbst gegeben hatte.
Die fortgesetzte Teilnahme des Barons benahm indes der übrigen Gesellschaft jeden Zweifel, indem
er sie versicherte, daß sie die größten Effekte hervorbringe, besonders indem sie eins seiner
eigenen Stücke aufführte, nur bedauerte er, daß der Prinz eine ausschließende Neigung für das
französische Theater habe, daß ein Teil seiner Leute hingegen, worunter sich Jarno besonders
auszeichne, den Ungeheuren der englischen Bühne einen leidenschaftlichen Vorzug gebe."

"Doch wir [...] bemerken nur, daß Wilhelm der Gräfin von Tag zu Tag interessanter vorkam,
so wie auch in ihm eine stille Neigung gegen sie aufzukeimen anfing. Sie konnte, wenn er
auf dem Theater war, die Augen nicht von ihm abwenden, und er schien bald nur allein gegen sie
gerichtet zu spielen und zu rezitieren. Sich wechselseitig anzusehen, war ihnen ein
unaussprechliches Vergnügen, dem sich ihre harmlosen Seelen ganz überließen, ohne lebhaftere
Wünsche zu nähren, oder für irgend eine Folge besorgt zu sein.
Wie über einen Fluß hinüber, der sie scheidet, zwei feindliche Vorposten sich ruhig und lustig
zusammen besprechen, ohne an den Krieg zu denken, in welchen ihre beiderseitigen Parteien
begriffen sind: so wechselte die Gräfin mit Wilhelm bedeutende Blicke über die ungeheure Kluft
der Geburt und des Standes hinüber, und jedes glaubte an seiner Seite, sicher seinen Empfindungen
nachhängen zu dürfen."

[Wilhelm - der Fürst - Jarno, ein Hofmann]
"Auch wurde die (Theater) Gesellschaft manchmal samt und sonders nach Tafel vor die hohen
Herrschaften gefordert.
Sie schätzten sich es zur größten Ehre, und bemerkten nicht, daß man zu eben derselben Zeit
durch Jäger und Bediente eine Anzahl Hunde hereinbringen, und Pferde im Schloßhofe vorführen ließ.
Man hatte Wilhelmen gesagt, daß er ja gelegentlich des Prinzen Liebling, Racine, loben, und dadurch
auch von sich eine gute Meinung erwecken solle. Er fand dazu an einem solchen Nachmittage Gelegenheit,
da er auch mit vorgefordert worden war, und der Prinz ihn fragte, ob er auch fleißig die großen
französischen Theaterschriftsteller lese? darauf ihm denn Wilhelm mit einem sehr lebhaften Ja antwortete.
Er bemerkte nicht, daß der Fürst, ohne seine Antwort abzuwarten, schon im Begriff war sich weg und zu
jemand anders zu wenden, er faßte ihn vielmehr sogleich und trat ihm beinah in den Weg, indem er
fortfuhr; er schätze das französische Theater sehr hoch und lese die Werke der große Meister mit
Entzücken, besonders habe er zu wahrer Freude gehört, daß der Fürst den großen Talenten eines
Racine völlige Gerechtigkeit wiederfahren lasse. Ich kann es mir vorstellen, fuhr er fort, wie
vornehme und erhabene Personen einen Dichter schätzen müssen, der die Zustände ihrer höheren
Verhältnisse so vortrefflich und richtig schildert.
Corneille hat, wenn ich so sagen darf, große Menschen dargestellt, und Racine vornehme Personen.
Ich kann mir, wenn ich seine Stücke lese, immer den Dichter denken, der an einem glänzenden Hofe
lebt, einen großen König vor Augen hat, mit den Besten umgeht, und in die Geheimnisse der Menschheit
dringt, wie sie sich hinter kostbar gewürkten Tapeten verbergen. Wenn ich seinen Brittannikus,
seine Berenice studiere, so kommt es mir wirklich vor, ich sei am Hofe, sei in das Große und
Kleine dieser Wohnungen der irdische Götter eingeweiht, und ich sehe, durch die Augen eines
feinfühlenden Franzosen, Könige, die eine ganze Nation anbetet, Hofleute, die von viel tausenden
beneidet werden, in ihrer natürlichen Gestalt mit ihren Fehlern und Schmerzen.
Die Anekdote, daß Racine sich zu Tode gegrämt habe, weil Ludwig der vierzehnte ihn nicht mehr
angesehen, ihn seine Unzufriedenheit fühlen lassen, ist mir ein Schlüssel zu allen seinen Werken,
und es ist unmöglich, daß ein Dichter von so großen Talenten, dessen Leben und Tod an den
Augen eines Königes hängt, nicht auch Stücke schreiben solle, die des Beifalls eines Königes
und eines Fürsten wert seien.
Jarno war herbei getreten und hörte unserem Freunde mit Verwunderung zu; der Fürst, der nicht
geantwortet und nur mit einem gefälligen Blicke seinen Beifall gezeigt hatte, wandte sich
seitwärts, obgleich Wilhelm, dem es noch unbekannt war, daß es nicht anständig sei,
unter solchen Umständen einen Diskurs fortsetzen und eine Materie erschöpfen zu wollen, noch
gerne mehr gesprochen und dem Fürsten gezeigt hätte, daß er nicht ohne Nutzen und Gefühl
seinen Lieblingsdichter gelesen.
Haben Sie denn niemals, sagte Jarno, indem er ihn beiseite nahm, ein Stück von Shakespearen
gesehen?
Nein, versetzte Wilhelm: denn seit der Zeit, daß sie in Deutschland bekannter geworden sind, bin
ich mit dem Theater unbekannt worden, und ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll, daß sich
zufällig eine alte jugendliche Liebhaberei und Beschäftigung gegenwärtig wieder erneuerte.
Indessen hat mich alles, was ich von jenen Stücken gehört, nicht neugierig gemacht, solche
seltsame Ungeheuer näher kennen zu lernen, die über alle Wahrscheinlichkeit, allen
Wohlstand hinauszuschreiten scheinen.
Ich will Ihnen denn doch raten, versetzte jener, einen Versuch zu machen, es kann nichts schaden,
wenn man auch das seltsame mit eigenen Augen sieht. Ich will Ihnen ein Paar Teile borgen,
und Sie können Ihre Zeit nicht besser anwenden, als wenn Sie sich gleich von allen losmachen,
und in der Einsamkeit Ihrer alten Wohnung in die Zauberlaterne dieser unbekannten Welt sehen."

"Die Pferde standen vor der Türe, und Jarno setzte sich mit einigen Kavalieren auf, um sich mit
der Jagd zu erlustigen.

Wilhelm sah ihm traurig nach. Er hätte gern mit diesem Manne noch vieles gesprochen, der ihm,
wiewohl auf eine unfreundliche Art, neue Ideen gab, Ideen, deren er bedurfte.
Der Mensch kommt manchmal, indem er sich einer Entwicklung seiner Kräfte, Fähigkeiten und
Begriffe nähert, in eine Verlegenheit, aus der ihm ein guter Freund leicht helfen könnte.
Er gleicht einem Wanderer, der nicht weit von der Herberge ins Wasser fällt; griffe jemand
sogleich zu, risse ihn ans Land, so wäre es um einmal naß werden getan, anstatt daß er sich
auch wohl selbst, aber am jenseitigen Ufer, heraus hilft, und einen beschwerlichen weiten
Umweg nach seinem bestimmten Ziele zu machen hat.
Wilhelm fing an zu wittern, daß es in der Welt anders zugehe, als er sich es gedacht, er sah
das wichtige und bedeutungsvolle Leben der Vornehmen und Großen in der Nähe, und verwunderte
sich, wie einen leichten Anstand sie ihm zu geben wußten.
Ein Heer auf dem Marsche, ein fürstlicher Held an seiner Spitze, so viele mitwürkende Krieger, so
viele zudringende Verehrer erhöhten seine Einbildungskraft.
In dieser Stimmung erhielt er die versprochenen Bücher, und in kurzem, wie man es vermuten kann,
ergriff ihn der Strom jenes großen Genius, und führte ihn einem unübersehlichen Meere zu,
worin er sich gar bald völlig vergaß und verlor."

"Wir Deutschen, rief er aus, verdienten, daß unsre Musen in der Verachtung blieben, in der sie
so lange geschmachtet haben, da wir nicht Männer von Stande zu schätzen wissen, die sich
mit unsrer Literatur auf irgend eine Weise abgeben mögen. Geburt, Stand und Vermögen stehen
in keinem Widerspruch mit Genie und Geschmack, das haben uns fremde Nationen gelehrt, welche
unter ihren besten Köpfen eine große Anzahl Edelleute zählen. War es bisher in Deutschland ein
Wunder, wenn ein Mann von Geburt sich den Wissenschaften widmete, wurden bisher nur wenige
berühmte Namen durch ihre Neigung zu Kunst und Wissenschaft noch berühmter; stiegen dagegen
manche aus der Dunkelheit hervor, und traten wie unbekannte Sterne an den Horizont, so wird
das nicht immer so sein, und wenn ich mich nicht sehr irre, so ist die erste Klasse der Nation
auf dem Wege, sich ihrer Vorteile auch zur Erringung des schönsten Kranzes der Musen in Zukunft
zu bedienen. Es ist mir daher nichts unangenehmer, als wenn ich nicht allein den Bürger oft
über den Edelmann, der die Musen zu schätzen weiß, spotten, sondern auch Personen von Stande
selbst mit unüberlegter Laune und niemals zu billigender Schadenfreude ihres Gleichen von
einem Wege abschrecken sehe, auf dem einen jeden Ehre und Zufriedenheit erwartet."

"Wilhelm kam indessen, außer in Proben und Spielstunden, wenig mehr zum Vorscheine. In einem der
hintersten Zimmer verschlossen, wozu nur Mignon und dem Harfner der Zutritt gerne verstattet
wurde, lebte und webte er in der shakespearischen Welt, so daß er außer sich nichts kannte
noch empfand.
Man erzählt von Zauberern, die durch magische Formeln eine ungeheure Menge allerlei geistiger
Gestalten in ihre Stube herbeiziehen. Die Beschwörungen sind so kräftig, daß sich bald der
Raum des Zimmers ausfüllt, und die Geister bis an den kleinen gezogenen Kreis hinan gedrängt,
um denselben und über dem Haupte des Meisters in ewig drehender Verwandlung sich bewegend
vermehren. Jeder Winkel ist vollgepfropft, und jedes Gesims besetzt, Eier dehnen sich aus und
Riesengestalten ziehen sich in Pilzen zusammen. Unglücklicher Weise hat der Schwarzkünstler
das Wort vergessen, womit er diese Geisterflut wieder zur Ebbe bringen könnte. - So saß
Wilhelm, und mit unbekannter Bewegung wurden tausend Empfindungen und Fähigkeiten in ihm
rege, von denen er keinen Begriff und keine Ahndung gehabt hatte. Nichts konnte ihn aus diesem
Zustande reißen, und er war sehr unzufrieden, wenn irgend jemand zu kommen Gelegenheit nahm,
um ihn von dem, was auswärts vorging, zu unterhalten."

[Philine + die Adelsdamen Gräfin und Baronesse]
"Philine wußte sich nun täglich besser bei den Damen einzuschmeicheln. Wenn sie zusammen allein
waren, leitete sie meistenteils das Gespräch auf die Männer, die kamen und gingen, und Wilhelm
war nicht der letzte, mit dem man sich beschäftigte. Dem klugen Mädchen blieb es nicht verborgen,
daß er einen tiefen Eindruck auf das Herz der Gräfin gemacht habe; sie erzählte daher von ihm
was sie wußte und nicht wußte; hütete sich aber irgend etwas vorzubringen, das man zu seinem
Nachteil hätte deuten können, und rühmte dagegen seinen Edelmut, seine Freigebigkeit und
besonders seine Sittsamkeit im Betragen gegen das weibliche Geschlecht."

[Wilhelm + Philine]
"Zuerst scherzte sie im Allgemeinen über das gute Glück, das ihn verfolge, und ihn auch,
wie sie wohl merke, gegenwärtig hierher gebracht habe, sodann warf sie ihm auf eine angenehme Art
sein Betragen vor, womit er sie bisher gequält habe, schalt und beschuldigte sich selbst, gestand,
daß sie sonst wohl so seine Begegnung verdient, machte eine so aufrichtige Beschreibung ihres
Zustandes, den sie den vorigen nannte, und setzte hinzu: daß sie sich selbst verachten müsse,
wenn sie nicht fähig wäre sich zu ändern, und sich seiner Freundschaft wert zu machen.
Wilhelm war über diese Rede betroffen. Er hatte zu wenig Kenntnis der Welt, um zu wissen, daß
eben ganz leichtsinnige und der Besserung unfähige Menschen sich oft am lebhaftesten anklagen,
ihre Fehler mit großer Freimütigkeit bekennen und bereuen, ob sie gleich nicht die mindeste
Kraft in sich haben, von dem Wege zurück zu treten, auf den eine übermächtig Natur sie hinreißt."

[Wilhelm + Jarno]
"Wilhelm hatte kaum einige Stücke Shakespears gelesen, als ihre Wirkung auf ihn so stark wurde,
daß er weiter fortzufahren nicht im Stande war. Seine ganze Seele geriet in Bewegung. Er suchte
Gelegenheit, mit Jarno zu sprechen, und konnte ihm nicht genug für die verschaffte Freude danken.
Ich habe es wohl vorausgesehen, sagte dieser, daß Sie gegen die Trefflichkeiten des
außerordentlichsten und wunderbarsten aller Schriftsteller nicht unempfindlich bleiben würden.
Ja, rief Wilhelm aus, ich erinnere mich nicht, daß ein Buch, ein Mensch oder irgend eine
Begebenheit des Lebens so große Wirkungen auf mich hervorgebracht hätte, als die köstlichen
Stücke, die ich durch ihre Gütigkeit habe kennen lernen. Sie scheinen ein Werk eines himmlischen
Genius zu sein, der sich den Menschen nähert, um sie mit sich selbst auf die gelindeste Weise
bekannt zu machen. Es sind keine Gedichte! man glaubt vor den aufgeschlagenen, ungeheuren
Büchern des Schicksals zu stehen, in denen der Sturmwind des bewegtesten Lebens saust, und sie
mit Gewalt rasch hin und wieder blättert. Ich bin über die Stärke und Zartheit, über die
Gewalt und Ruhe so erstaunt, und außer aller Fassung gebracht, daß ich nur mit Sehnsucht auf
die Zeit warte, da ich mich in einem Zustande befinden werde, weiter zu lesen."

"Ich wünschte, versetzte Wilhelm, daß ich Ihnen alles, was gegenwärtig in mir vorgeht,
entdecken könnte! Alle Vorgefühle, die ich jemals über Menschheit und ihre Schicksale gehabt,
die mich von Jugend auf, mir selbst unbemerkt, begleiteten, finde ich in Shakespears Stücken
erfüllt und entwickelt. Es scheint, als wenn er uns alle Rätsel offenbarte, ohne daß man doch
sagen kann: hier oder da ist das Wort der Auflösung. Seine Menschen scheinen natürliche Menschen
zu sein, und sie sind es doch nicht. Diese geheimnisvollsten und zusammengesetztesten Geschöpfe
der Natur handeln vor uns in seinen Stücken, als wenn sie Uhren wären, deren Zifferblatt und
Gehäuse man von Kristall gebildet hätte, sie zeigen nach ihrer Bestimmung den Lauf der Stunden
an, und man kann zugleich das Räder- und Federwerk erkennen, das sie treibt.
Diese wenigen Blicke, die ich in Shakespears Welt getan, reizen mich mehr als irgend etwas
anders, in der wirklichen Welt schnellere Fortschritte vorwärts zu tun, mich in die Flut der
Schicksale zu mischen, die über sie verhängt sind, und dereinst, wenn es mir glücken sollte,
aus dem großen Meere der wahren Natur wenige Becher zu schöpfen, und sie von der Schaubühne
dem lechzenden Publikum meines Vaterlandes auszuspenden.
Wie freut mich die Gemütsverfassung, in der ich Sie sehe, versetzte Jarno, und legte dem bewegten
Jüngling die Hand auf die Schulter. Lassen Sie den Vorsatz nicht fahren, in ein tätiges Leben
überzugehen, und eilen Sie die guten Jahre, die Ihnen gegönnt sind, wacker zu nutzen.
Kann ich Ihnen behülflich sein, so geschieht es von ganzem Herzen. Noch habe ich nicht gefragt,
wie Sie in diese (Theater) Gesellschaft gekommen sind, für die Sie weder geboren,
noch erzogen sein können. So viel hoffe ich und sehe ich, daß Sie sich heraus sehnen.
Ich weiß nichts von Ihrer Herkunft, von Ihren häuslichen Umständen, überlegen Sie, was Sie mir
vertrauen wollen. So viel kann ich Ihnen nur sagen, die Zeiten des Krieges, in denen wir leben,
können schnelle Wechsel des Glückes hervorbringen; mögen Sie Ihre Kräfte und Talente unserm Dienste
widmen, Mühe, und wenn es Not tut, Gefahr nicht scheuen, so habe ich eben jetzo eine Gelegenheit,
Sie an einen Platz zu stellen, den eine Zeitlang bekleidet zu haben, Sie in der Folge nicht
gereuen wird.
Wilhelm konnte seinen Dank nicht genug ausdrücken, und war willig, seinem Freund und Beschützer
die ganze Geschichte seines Lebens zu erzählen."

[Wilhelm - ein Gruppe von Soldaten]
"Sie waren sehr lebhaft, und erzählten viele lustige Geschichten. Der eine besonders, der eine
Zeitlang auf Werbung gestanden, wußte nicht genug die List und Tätigkeit seines Hauptmanns
zu rühmen, der alle Arten von Menschen an sich zu ziehen, und jeden nach seiner Art zu überlisten
verstand. Umständlich erzählte er, wie junge Leute von gutem Hause und sorgfältiger Erziehung,
durch allerlei Vorspiegelungen einer anständigen Versorgung betrogen worden, und lachte herzlich
über die Gimpel, denen es im Anfange so wohl getan habe, sich von einem angesehenen, tapferen,
klugen und freigebigen Offizier geschätzt und hervorgezogen zu sehen.
Wie segnete Wilhlem seinen Genius, der ihm so unvermutet den Abgrund zeigte, dessen Rande er sich
unschuldigerweise genähert hatte. Er sah nun in Jarno nichts als den Werber; die Umarmung des
fremden Offiziers war ihm leicht erklärlich. Er verabscheute die Gesinnungen dieser Männer, und
vermied von dem Augenblicke mit irgend jemand, der eine Uniform trug, zusammen zu kommen,
und ihm wäre die Nachricht, daß die Armee weiter vorwärts rücke, in diesem Sinne sehr angenehm
gewesen, wenn er nicht zugleich hätte fürchten müssen, aus der Nähe seiner schönen Freundin
(der Gräfin), vielleicht auf immer, verbannt zu werden."

[Wilhelm]
"Wilhelm war indessen auf eine eigene Weise beschäftig. Die Gräfin hatte von ihm die Abschrift seiner
Stücke verlangt, und er sah diesen Wunsch der liebenswürdigen Frau als die schönste Belohnung an.
Ein junger Autor, der sich noch nicht gedruckt gesehn, wendet in einem solchen Falle die größte
Aufmerksamkeit auf eine reinliche und zierliche Abschrift seiner Werke. Es ist gleichsam das
goldne Zeitalter der Autorschaft; man sieht sich in jene Jahrhunderte versetzt, in denen die Presse
noch nicht die Welt mit so viel unnützen Schriften überschwemmt hatte, wo nur würdige Geistesprodukte
abgeschrieben, und von den edelsten Menschen verwahrt wurden, und wie leicht begeht man alsdann den
Fehlschluß, daß ein sorgfältig abgezirkeltes Manuskript auch ein würdiges Geistesprodukt sei, wert von
einem Kenner und Beschützer besessen und aufgestellt zu werden."

[Wilhelm + Philine, die Gräfin, eine Baronesse]
"Philine, als sie merkte, daß den beiden Damen, in Erwartung ihrer Gäste, die Zeit lang wurde,
schlug vor, Wilhelmen kommen zu lassen, der sein fertiges Manuskript zu überreichen und noch einige
Kleinigkeiten vorzulesen wünschte.
Er kam und erstaunte im Hereintreten über die Gestalt, über die Anmut der Gräfin, die durch ihren
Putz nur sichtbarer geworden waren. Er las nach dem Befehle der Damen; allein so zerstreut und
schlecht, daß wenn die Zuhörerinnen nicht so nachsichtig gewesen wären, sie ihn gar bald würden
entlassen haben.
So oft er die Gräfin anblickte, schien es ihm, als wenn ein elektrischer Funke sich vor seinen
Augen zeigte; er wußte zuletzt nicht mehr, wo er Atem zu seiner Rezitation hernehmen solle.
Die schöne Dame hatte ihm immer gefallen; aber jetzt schien es ihm, als ob er nie etwas
vollkommneres gesehen hätte, und von den tausenderlei Gedanken, die sich in seiner Seele kreuzten,
mochte ohngefähr folgendes der Inhalt sein:
Wie törigt lehnen sich doch so viele Dichter und sogenannte gefühlvolle Menschen gegen Putz und
Pracht auf, und verlangen nur in einfachen, der Natur angemessenen Kleidern die Frauen alles Standes
zu sehen. Sie schelten den Putz, ohne zu bedenken, daß es der arme Putz nicht ist, der uns
mißfällt, wenn wir eine häßliche oder minder schöne Person reich und sonderbar gekleidet erblicken;
aber ich wollte alle Kenner der Welt hier versammeln und sie fragen, ob sie wünschten etwas von
diesen Falten, von diesen Bändern und Spitzen, von diesen Puffen, Locken und leuchtenden Steinen
wegzunehmen? Würden sie nicht fürchten, den angenehmen Eindruck zu stören, der ihnen hier so willig
und natürlich entgegen kommt? "

"Er sah sie oft im Lesen an, als wenn er diesen Eindruck sich auf ewig einprägen wollte, und las
einigemal falsch, ohne darüber in Verwirrung zu geraten, ob er gleich sonst über der
Verwechslung eines Wortes oder eines Buchstabens als über einen leidigen Schandfleck einer
ganzen Vorlesung verzweifeln konnte.
Ein falscher Lärm, als wenn die Gäste angefahren kämen, machte der Vorlesung ein Ende.
Die Baronesse ging weg und die Gräfin, im Begriff ihren Schreibtisch zuzumachen, der noch offen
stand, ergriff ein Ringkästchen und steckte noch einige Ringe an die Finger. Wir werden uns bald
trennen, sagte sie, indem sie ihre Augen auf das Kästchen heftete: nehmen sie ein Andenken von
einer guten Freundin, die nichts lebhafter wünscht, als daß es Ihnen wohl gehen möge.
Sie nahm darauf einen Ring heraus, der unter einem Krystall ein schön von Haaren geflochtenes
Schild zeigte, und mit Steinen besetzt war. Sie überreichte ihn Wilhelmen, der, als er ihn annahm,
nichts zu sagen und nichts zu tun wußte, sondern wie eingewurzelt in den Boden da stand.
Die Gräfin schloß den Schreibtisch zu, und setzte sich auf ihren Sofa."

"Philine ergriff die rechte Hand der Gräfin, und küßte sie mit Lebhaftigkeit. Wilhelm stürzte auf
seine Kniee, faßte die linke, und drückte sie an seine Lippen. Die Gräfin schien verlegen, aber ohne
Widerwillen."

[Wilhelm + die Gräfin, allein]
"Er küßte ihre Hand, und wollte aufstehn; aber wie im Traum das Seltsamste aus dem Seltsamsten
sich entwickelnd uns überrascht; so hielt er, ohne zu wissen, wie es geschah, die Gräfin in seinen
Armen, ihre Lippen ruhten auf den seinigen, und ihre wechselseitigen lebhaften Küsse gewährten
ihnen eine Seligkeit, die wir nur aus dem ersten aufbrausenden Schaum des frisch eingeschenkten
Bechers der Liebe schlürfen."

"Wie erschrak Wilhelm, wie betäubt fuhr er aus einem glücklichen Traume auf, als die Gräfin
sich auf einmal mit einem Schrei von ihm losriß, und mit der Hand nach ihrem Herzen fuhr.
Er stand betäubt vor ihr da; sie hielt die andere Hand vor die Augen, und rief nach einer
Pause: entfernen Sie sich, eilen Sie! Er stand noch immer.
Verlassen Sie mich, rief sie, und indem sie die Hand von den Augen nahm, und ihn mit einem
unbeschreiblichen Blicke ansah, setzte sie mit der lieblichsten Stimme hinzu: fliehen Sie mich,
wenn Sie mich lieben.
Wilhelm war aus dem Zimmer, und wieder auf seiner Stube, eh' er wußte, wo er sich befand.
Die Unglücklichen! welche sonderbare Warnung des Zufalls oder der Schickung riß sie
aus einander?"

************************************** 4. Buch *********************************

[Wilhelm]
"Mit heimlicher Zufriedenheit blickte er auf sein Talent, mit einem kleinen Stolze auf das Glück,
das ihn geleitet und begleitet hatte. Er ergriff nunmehr mit Zuversicht die Feder, um einen Brief
zu schreiben, der auf einmal die Familie aus aller Verlegenheit und sein bisheriges Betragen in das
beste Licht setzen sollte. Er vermied eine eigentliche Erzählung, und ließ nur in bedeutenden
und mystischen Ausdrücken dasjenige, was ihm begegnet sein könnte, erraten.
Der gute Zustand seiner Kasse, der Erwerb, den er seinem Talent schuldig war, die Gunst der Gro-
ßen, die Neigung der Frauen, die Bekanntschaft in einem weiten Kreise, die Ausbildung seiner kör-
perlichen und geistigen Anlagen, die Hoffnung für die Zukunft bildeten ein solches wunderli-
ches Luftgemälde, daß Fata Morgagna selbst es nicht seltsamer hätte durcheinander wirken können.
In dieser glücklichen Exaltation fuhr er fort, nachdem der Brief geschlossen war, ein langes Selbst-
gespräch zu unterhalten, in welchem er den Inhalt des Schreibens rekapitulierte, und sich eine tä-
tige und würdige Zukunft ausmalte. Das Beispiel so vieler edler Krieger hatte ihn angefeuert, die
Shakespearische Dichtung hatte ihm eine neue Welt eröffnet, und von den Lippen der schönen Grä-
fin hatte er ein unaussprechliches Feuer in sich gesogen.
Das alles konnte, das sollte nicht ohne Wirkung aufs Leben bleiben."
"Sein Freund Shakespear, den er mit großer Freude auch als seinen Paten anerkannte, und sich nur
um so lieber Wilhelm nennen ließ, hatte ihm einen Prinzen bekannt gemacht, der sich unter gerin
ger, ja sogar schlechter Gesellschaft eine Zeitlang aufhält, und, ohngeachtet seiner edlen Natur,
an der Roheit, Unschicklichkeit und Albernheit solcher ganz sinnlichen Bursche sich ergötzt. Höchst
willkommen war ihm das Ideal, womit er seinen gegenwärtigen Zustand vergleichen konnte, und der Selbst-
betrug, wozu er eine fast unüberwindliche Neigung spürte, ward ihm dadurch außerordentlich erleichtert."

[Wilhelm + Philine]
"Philine [...] bat sich seine schönen Haare aus, die er, um dem natürlichen Ideal nur desto näher zu
kommen, unbarmherzig abgeschnitten hatte.
Sie empfahl sich dadurch nicht übel, und unser Freund, der durch seine Freigebigkeit sich das
Recht erworben hatte, auf Prinz Harry's Manier mit den übrigen umzugehen, kam bald selbst in den
Geschmack, einige tolle Streiche anzugeben und zu befördern. Man focht, man tanzte, man erfand
allerlei Spiele, und in der Fröhlichkeit des Herzens genoß man des leidlichen Weins, den man
angetroffen hatte, in starkem Maße, und Philine lauerte in der Unordnung dieser Lebensart dem
spröden Helden auf, für den sein guter Genius Sorge tragen möge."

[Wilhelm + die Theatergesellschaft beim extemporierten Spiel]
"Ich wünschte, sagte Wilhelm darauf, daß durch euere Äußerungen weder Neid noch Eigenliebe
durchschiene, und daß ihr jene Personen und ihre Verhältnisse aus dem rechten Gesichtspunkte
betrachtetet. Es ist eine eigene Sache, schon durch die Geburt auf einen erhabenen Platz in der
menschlichen Gesellschaft gesetzt zu sein. Wem ererbte Reichtümer eine vollkommene Leichtigkeit
des Daseins verschafft haben, wer sich, wenn ich mich so ausdrücken darf, von allem Beiwesen der
Menschheit, von Jugend auf, reichlich umgeben findet, gewöhnt sich meist diese Güter als das
Erste und Größte zu betrachten, und der Wert einer von der Natur schön ausgestatteten Menschheit
wird ihm nicht so deutlich. Das Betragen der Vornehmen gegen Geringere und auch unter einander, ist
nach äußern Vorzügen abgemessen; sie erlauben jedem seinen Titel, seinen Rang, seine Kleider und
Equipage, nur nicht seine Verdienste geltend zu machen.
Diesen Worten gab die Gesellschaft einen unmäßigen Beifall. Man fand abscheulich, daß der Mann
von Verdienst immer zurück stehen müsse, und daß in der großen Welt keine Spur von natürlichem
und herzlichem Umgang zu finden sei.
Sie kamen besonders über diesen letzten Punkt aus dem Hundertsten ins Tausendste.
Scheltet sie nicht darüber, rief Wilhelm aus, bedauert sie vielmehr. Denn von jenem Glück, das wir
als das höchste erkennen, das aus dem innern Reichtum der Natur fließt, haben sie selten eine
erhöhte Empfindung. Nur uns Armen, die wir wenig oder nichts besitzen, ist es gegönnt, das
Glück der Freundschaft in reichem Maße zu genießen.
Wir können unsre Geliebten weder durch Gnade erheben, noch durch Gunst befördern, noch durch
Geschenke beglücken. Wir haben nichts als uns selbst. Dieses ganze Selbst müssen wir hingeben,
und, wenn es einigen Wert haben soll, dem Freunde das Gut auf ewig versichern.
Welch ein Genuß, welch ein Glück für den Geber und Empfänger! In welchen seligen Zustand
versetzt uns die Treue, sie gibt dem vorübergehenden Menschenleben eine himmlische Gewißheit;
sie macht das Hauptkapital unsres Reichtums aus."

"Wie leicht wird es einem Großen, die Gemüter zu gewinnen, wie leicht eignet er sich die Herzen
zu. Ein gefälliges, bequemes, nur einigermaßen menschliches Betragen tut Wunder, und wie viele
Mittel hat er, die einmal erworbenen Geister fest zu halten. Uns kommt alles seltner, wird alles
schwerer, und wie natürlich ist es, daß wir auf das, was wir erwerben und leisten, einen größern
Wert legen. Welche rührende Beispiele von treuen Dienern, die sich für ihre Herren aufopferten!
Wie schön hat uns Shakespear solche geschildert! Die Treue ist, in diesem Falle, ein Bestreben
einer edlen Seele, einem Größern gleich zu werden. Durch fortdauernde Anhänglichkeit und Liebe
wird der Diener seinem Herrn gleich, der ihn sonst nur als einen bezahlten Sklaven anzusehen
berechtigt ist. Ja, diese Tugenden sind nur für den geringen Stand; er kann sie nicht entbehren,
und sie kleiden ihn schön. Wer sich leicht loskaufen kann, wird so leicht versucht, sich auch
der Erkenntlichkeit zu überheben. Ja, in diesem Sinne glaube ich behaupten zu können, daß ein
Großer wohl Freunde haben, aber nicht Freund sein könne."

"Wenn ich abrechne, versetzte Wilhelm, was Schadenfreude und Ironie gewesen sein mag: so denk
ich, es geht in der Kunst wie in der Liebe! Wie will der Weltmann bei seinem zerstreuten Leben die
Innigkeit erhalten, in der ein Künstler bleiben muß, wenn er etwas Vollkommenes hervorzubringen
denkt, und die selbst demjenigen nicht fremd sein darf, der einen solchen Anteil am Werke nehmen
will, wie der Künstler ihn wünscht und hofft.
Glaubt mir, meine Freunde, es ist mit den Talenten wie mit der Tugend: man muß sie um ihrer selbst
willen lieben, oder sie ganz aufgeben. Und doch werden sie beide nicht anders erkannt und belohnt,
als wenn man sie, gleich einem gefährlichen Geheimnis, im Verborgnen üben kann."

"Wilhelm hoffte nunmehr, da er die Gesellschaft in so guter Disposition sah, sich auch mit ihr über
das dichterische Verdienst der Stücke unterhalten zu können. Es ist nicht genug, sagte er zu ihnen,
als sie des andern Tages wieder zusammen kamen, daß der Schauspieler ein Stück nur so oben hin
ansehe, dasselbe nach dem ersten Eindruck beurteile, und ohne Prüfung sein Gefallen oder Miß-
fallen daran zu erkennen gebe. Dies ist dem Zuschauer wohl erlaubt, der gerührt und unterhalten
sein, aber eigentlich nicht urteilen will. Der Schauspieler dagegen soll von dem Stücke und von
den Ursachen seines Lobes und Tadels Rechenschaft geben können: und wie will er das, wenn er
nicht in den Sinn seines Autors, wenn er nicht in die Absichten desselben einzudringen versteht?
Ich habe den Fehler, ein Stück aus einer Rolle zu beurteilen, eine Rolle nur an sich und nicht
im Zusammenhang mit dem Stück zu betrachten, an mir selbst in diesen Tagen so lebhaft bemerkt,
daß ich euch das Beispiel erzählen will, wenn ihr mir ein geneigtes Gehör gönnen wollt."

"Ich suchte jede Spur auf, die sich von dem Charakter Hamlets in früherer Zeit vor dem Tode sei-
nes Vaters zeigte; ich bemerkte, was unabhängig von dieser traurigen Begebenheit, unabhängig
von den nachfolgenden schrecklichen Ereignissen, dieser interessante Jüngling gewesen war, und
was er ohne sie vielleicht geworden wäre.
Zart und edel entsprossen wuchs die königliche Blume, unter den unmittelbaren Einflüssen der
Majestät, hervor; der Begriff des Rechts und der fürstlichen Würde, das Gefühl des Guten und
Anständigen mit dem Bewußtsein der Höhe seiner Geburt, entwickelten sich zugleich in ihm.
Er war ein Fürst, ein geborner Fürst, und wünschte zu regieren, nur damit der Gute ungehindert
gut sein möchte. Angenehm von Gestalt, gesittet von Natur, gefällig von Herzen aus, sollte er
das Muster der Jugend sein, und die Freude der Welt werden.
Ohne irgend eine hervorstehende Leidenschaft, war seine Liebe zu Ophelien ein stilles Vorgefühl
süßer Bedürfnisse; sein Eifer zu ritterlichen Übungen war nicht ganz Original, vielmehr mußte
diese Lust, durch das Lob, das man dem Dritten beilegte, geschärft und erhöht werden; rein
fühlend kannte er die Redlichen, und wußte die Ruhe zu schätzen, die ein aufrichtiges Gemüt
an dem offnen Busen eines Freundes genießt. Bis auf einen gewissen Grad hatte er in Künsten
und Wissenschaften das Gute und Schöne erkennen und würdigen gelernt; das Abgeschmackte
war ihm zuwider, und wenn in seiner zarten Seele der Haß aufkeimen konnte, so war es nur
eben so viel als nötig ist, um bewegliche und falsche Höflinge zu verachten, und spöttisch mit
ihnen zu spielen. Er war gelassen in seinem Wesen, in seinem Betragen einfach, weder im
Müßiggange behaglich, noch allzubegierig nach Beschäftigung.
Ein akademisches Hinschlendern schien er auch bei Hofe fortzusetzen.
Er besaß mehr Fröhlichkeit der Laune als des Herzens, war ein guter Gesellschafter, nachgiebig,
bescheiden, besorgt, und konnte eine Beleidigung vergeben und vergessen; aber niemals konnte er
sich dem vereinigen, der die Grenzen des Rechten, des Guten, des Anständigen überschritt."

[Wilhelm - verletzt nach einem Raubüberfall + eine schöne Amazone + Philine]
"Ist es Ihr Mann? fragte sie (die Amazone) Philinen. Es ist nur ein guter Freund, versetzte diese mit
einem Ton, der Wilhelmen höchst zuwider war. Er hatte seine Augen auf die sanften, hohen, stillen,
teilnehmenden Gesichtszüge der Ankommenden geheftet; er glaubte nie etwas edleres noch lie-
benswürdigeres gesehen zu haben.
Ein weiter Mannsüberrock verbarg ihm ihre Gestalt; sie hatte ihn, wie es schien, gegen die Einflüs-
se der kühlen Abendluft von einem ihrer Gesellschafter geborgt."

"Wilhelm hatte seine Augen auf sie gerichtet, und war von ihren Blicken so eingenommen, daß er kaum
fühlte, was mit ihm vorging.
Philine war indessen aufgestanden, um der gnädigen Dame die Hand zu küssen. Als sie neben einander
standen, glaubte unser Freund nie einen solchen Abstand gesehn zu haben. Philine war ihm noch nie in
einem so ungünstigen Lichte erschienen. Sie sollte, wie es ihm vorkam, sich jener edlen Natur nicht
nahen, noch weniger sie berühren."
"Wilhelm, den der heilsame Blick ihrer Augen bisher fest gehalten hatte, war nun, als der Überrock
fiel, von ihrer schönen Gestalt überrascht. Sie trat näher herzu, und legte den Rock sanft über ihn hin.
In diesem Augenblicke, da er den Mund öffnen und einige Worte des Dankes stammeln wollte, wirkte
der lebhafte Eindruck ihrer Gegenwart so sonderbar auf seine schon angegriffenen Sinne, daß es ihm
auf einmal vorkam, als sei ihr Haupt mit Strahlen umgeben, und über ihr ganzes Bild verbreite sich
nach und nach ein glänzendes Licht.
Der Chirurgus berührte ihn eben unsanfter, indem er die Kugel, welche in der Wunde stak, herauszuzie-
hen Anstalt machte.
Die Heilige verschwand vor den Augen des Hinsinkenden; er verlor alles Bewußtsein, und als er wieder
zu sich kam, waren Reiter und Wagen, die Schöne samt ihren Begleitern verschwunden."

[Wilhelm + Philine]
"Philine, sagte Wilhelm, ich bin Ihnen bei dem Unfall, der uns begegnet ist, schon manchen Dank
schuldig worden, und ich wünschte nicht, meine Verbindlichkeiten gegen Sie vermehrt zu sehen.
Ich bin unruhig, so lange Sie um mich sind, denn ich weiß nichts, womit ich Ihnen die Mühe
vergelten kann. Geben Sie mir meine Sachen, die Sie in ihrem Koffer gerettet haben, heraus,
schließen Sie sich an die übrige Gesellschaft an, suchen Sie ein ander Quartier, nehmen Sie
meinen Dank und die goldne Uhr als eine kleine Erkenntlichkeit, nur verlassen Sie mich;
Ihre Gegenwart beunruhigt mich mehr als Sie glauben."

[Wilhelm]
"Unaufhörlich rief er sich jene Begebenheit zurück, welche einen unauslöschlichen Eindruck auf
sein Gemüt gemacht hatte. Er sah die schöne Amazone reitend aus den Büschen hervorkommen,
sie näherte sich ihm, stieg ab, ging hin und wieder, und bemühte sich um seinetwillen.
Er sah das umhüllende Kleid von ihren Schultern fallen; ihr Gesicht, ihre Gestalt glänzend
verschwinden. Alle seine Jugendträume knüpften sich an dieses Bild."

"Sollten nicht, sagte er manchmal im Stillen zu sich selbst, uns in der Jugend wie im Schlafe,
die Bilder zukünftiger Schicksale umschweben, und unserm unbefangenen Auge ahndungsvoll sichtbar
werden? sollten die Keime dessen, was uns begegnen wird, nicht schon von der Hand des Schicksals
ausgestreut, sollte nicht ein Vorgenuß der Früchte, die wir einst zu brechen hoffen, möglich sein?"

"Mit lebhaften Schritten nahete er sich der Besserung. Er hoffte nun in wenig Tagen seine Reise
antreten zu können. Er wollte nicht etwa planlos ein schlenderndes Leben fortsetzen, sondern
zweckmäßige Schritte sollten künftig seine Bahn bezeichnen."

"Was diese sonderbare Bewegung in ihm vermehrte, war die Ähnlichkeit, die er zwischen der Gräfin und
der schönen Unbekannten entdeckt zu haben glaubte.
Sie glichen sich, wie sich zwei Schwestern gleichen mögen, deren keine die jüngere noch die ältere
genannt werden darf, denn sie scheinen Zwilling zu sein.
Die Erinnerung an die liebenswürdige Gräfin war ihm unendlich süß. Er rief sich ihr Bild nur allzugern
wieder ins Gedächtnis. Aber nun trat die Gestalt der edlen Amazone gleich dazwischen, eine Erscheinung
verwandelte sich in die andere, ohne daß er im Stande gewesen wäre, diese oder jene fest zu halten.

"Die sanften Lockungen des lieben Schutzgeistes, anstatt unsern Freund auf irgend einen Weg zu führen,
nährten und vermehrten die Unruhe, die er vorher empfunden hatte. Eine heimliche Glut schlich in
seinen Adern, bestimmte und unbestimmte Gegenstände wechselten in seiner Seele, und erregten ein
endloses Verlangen. Bald wünschte er sich ein Roß, bald Flügel, und indem es ihm unmöglich schien,
bleiben zu können, sah er sich erst um, wohin er denn eigentlich begehre.
Der Faden seines Schicksals hatte sich so sonderbar verworren; er wünschte die seltsamen Knoten
aufgelöst oder zerschnitten zu sehen."

"Die Eigenliebe läßt uns sowohl unsre Tugenden als unsre Fehler viel bedeutender, als sie sind,
erscheinen."

[Wilhelm + Serlo, Theaterdirektor und dessen Schwester Aurelie]
"Zum erstenmal seit langer Zeit fand sich Wilhelm wieder in seinem Elemente. Bei seinen Gesprächen
hatte er sonst nur notdürftig gefällige Zuhörer gefunden, da er gegenwärtig mit Künstlern und Kennern
(Serlo und dessen Schwester Aurelie) zu sprechen das Glück hatte, die ihn nicht allein vollkommen
verstanden, sondern die auch sein Gespräch belehrend erwiederten."

"Nun mußte sich, bei Wilhelms Vorliebe für Shakespearen, das Gespräch notwendig auf diesen
Schrifsteller lenken. Er zeigte die lebhafteste Hoffnung auf die Epoche, welche diese vortrefflichen
Stücke in Deutschland machen müßten, und bald brachte er seinen Hamlet vor, der ihn so sehr
beschäftigt hatte."

[Wilhelm + Aurelie, im Trennungsschmerz]
"Und nun, sagte Aurelie, wenn sie (Ophelie von Hamlet) sich verlassen sieht, verstoßen und ver-
schmäht, wenn in der Seele ihres wahnsinnigen Geliebten sich das Höchste zum Tiefsten umwendet,
und er ihr statt des süßen Bechers der Liebe den bittern Kelch der Leiden hinreicht -
Ihr Herz bricht, rief Wilhelm aus, das ganze Gerüste ihres Daseins rückt aus seinen Fugen,
der Tod ihres Vaters stürmt herein, und das schöne Gebäude stürzt völlig zusammen.
Wilhelm hatte nicht bemerkt, mit welchem Ausdruck Aurelie die letzten Worte aussprach.
Nur auf das Kunstwerk, dessen Zusammenhang und Vollkommenheit gerichtet, ahndete er nicht,
daß seine Freundin eine ganz andere Wirkung empfand; nicht daß ein eigner tiefer Schmerz durch
diese dramatischen Schattenbilder in ihr lebhaft erregt ward.
Noch immer hatte Aurelie ihr Haupt von ihren Armen unterstützt, und ihre Augen, die sich mit
Tränen füllten, gen Himmel gewendet. Endlich hielt sie nicht länger ihren verborgnen Schmerz
zurück; sie faßte des Freundes beide Hände, und rief, indem er erstaunt vor ihr stand: verzeihen
Sie, verzeihen Sie einem geängstigten Herzen! die (Theater) Gesellschaft schnürt und preßt
mich zusammen, vor meinem unbarmherzigen Bruder muß ich mich zu verbergen suchen; nun hat Ihre
Gegenwart alle Bande aufgelöst. Mein Freund! fuhr sie fort, seit einem Augenblicke sind wir erst
bekannt, und schon werden Sie mein Vertrauter. Sie konnte die Worte kaum aussprechen, und sank an
seine Schulter. Denken Sie nicht übler von mir, sagte sie schluchzend, daß ich mich Ihnen so schnell
eröffne, daß Sie mich so schwach sehen. Sein Sie, bleiben Sie mein Freund, ich verdiene es.
Er redete ihr auf das herzlichste zu, umsonst! ihre Tränen flossen und erstickten ihre Worte."

"Ich muß ihre Schilderung Opheliens wohl gelten lassen, fuhr sie fort: ich will die Absicht des
Dichters nicht verkennen; nur kann ich sie mehr bedauern, als mit ihr empfinden.
Nun aber erlauben Sie mir eine Betrachtung, zu der Sie mir in der kurzen Zeit oft Gelegenheit
gegeben haben: mit Bewunderung bemerke ich an Ihnen den tiefen und richtigen Blick, mit dem
Sie Dichtung und besonders dramatische Dichtung beurteilen; die tiefsten Abgründe der Erfindung
sind Ihnen nicht verborgen, und die feinsten Züge der Ausführung sind Ihnen bemerkbar.
Ohne die Gegenstände jemals in der Natur erblickt zu haben, erkennen Sie die Wahrheit im Bilde;
es scheint eine Vorempfindung der ganzen Welt in Ihnen zu liegen, welche durch die harmonische
Berührung der Dichtkunst erregt und entwickelt wird. Denn wahrhaftig, fuhr sie fort, von außen
kommt nichts in Sie hinein; ich habe nicht leicht jemanden gesehen, der die Menschen, mit denen
er lebt, so wenig kennt, so von Grunde aus verkennt, wie Sie. Erlauben Sie mir, es zu sagen:
wenn man Sie ihren Shakespear erklären hört, glaubt man, Sie kämen eben aus dem Rat der Götter,
und hätten zugehört, wie man sich daselbst beredet, Menschen zu bilden; wenn Sie dagegen mit
Leuten umgehen, seh ich in Ihnen gleichsam das erste, groß geborne Kind der Schöpfung, das mit
sonderlicher Verwunderung und erbaulicher Gutmütigkeit Löwen und Affen, Schafe und Elefanten
anstaunt, und sie treuherzig als seines gleichen anspricht, weil sie eben auch da sind und sich
bewegen.
Die Ahndung meines schülerhaften Wesens, werte Freundin, versetzte er, ist mit öfters lästig,
und ich werde Ihnen danken, wenn Sie mir über die Welt zu mehrerer Klarheit verhelfen wollen.
Ich habe von Jugend auf die Augen meines Geistes mehr nach Innen als nach Außen gerichtet,
und da ist es sehr natürlich, daß ich den Menschen, bis auf einen gewissen Grad habe
kennen lernen, ohne die Menschen im mindesten zu verstehen und zu begreifen.
Gewiß, sagte Aurelie, ich hatte Sie Anfangs in Verdacht, als wollten Sie uns zum Besten haben,
da Sie von den Leuten, die Sie meinem Bruder zugeschickt haben, so manches Gutes sagten, wenn
ich Ihre Briefe mit den Verdiensten dieser Menschen zusammenhielt.
Die Bemerkung Aureliens, so wahr sie sein mochte, und so gern ihr Freund diesen Mangel bei sich
gestand, führte doch etwas Drückendes, ja sogar Beleidigendes mit sich, daß er still ward, und
sich zusammen nahm, teils um keine Empfindlichkeit merken zu lassen, teils in seinem Busen nach
der Wahrheit dieses Vorwurfs zu forschen.
Sie dürfen nicht darüber betreten sein, fuhr Aurelie fort, zum Lichte des Verstandes können wir
immer gelangen; aber die Fülle des Herzens kann uns niemand geben. Sind Sie zum Künstler
bestimmt, so können Sie diese Dunkelheit und Unschuld nicht lange genug bewahren; sie ist die
schöne Hülle, über der jungen Knospe: Unglücks genug, wenn wir zu früh herausgetrieben werden.
Gewiß es ist gut, wenn wir die nicht immer kennen, für die wir arbeiten.
O! ich war auch einmal in diesem glücklichen Zustande, als ich mit dem höchsten Begriff von mir
selbst und meiner Nation die Bühne betrat. Was waren die Deutschen nicht in meiner Einbildung,
was konnten sie nicht sein! Zu dieser Nation sprach ich, über die mich ein kleines Gerüst erhob,
von welcher mich eine Reihe Lampen trennte, deren Glanz und Dampf mich hinderte, die
Gegenstände vor mir genau zu unterscheiden. Wie willkommen war mir der Klang des Beifalls,
der aus der Menge herauf tönte; wie dankbar nahm ich das Geschenk an, das mir einstimmig von
so vielen Händen dargebracht wurde. Lange wiegte ich mich so hin; wie ich wirkte, wirkte die
Menge wieder auf mich zurück, ich war mit meinem Publikum in dem besten Vernehmen; ich glaubte
eine vollkommene Harmonie zu fühlen, und jederzeit die Edelsten und Besten der Nation vor mir
zu sehen. Unglücklicherweise war es nicht die Schauspielerin allein, deren Naturell und Kunst
die Theaterfreunde interessierte, sie machten auch Ansprüche an das junge lebhafte Mädchen.
Sie gaben mir nicht undeutlich zu verstehen, daß meine Pflicht sei, die Empfindungen, die ich in
ihnen rege gemacht, auch persönlich mit ihnen zu teilen."

"Und wenn Sie denken, daß vom beweglichen Ladendiener und dem eingebildeten Kaufmannssohn, bis
zum gewandten abwiegenden Weltmann, dem kühnen Soldaten und dem raschen Prinzen, alle, nach und
nach, bei mir vorbei gegangen sind, und jeder nach seiner Art seinen Roman anzuknüpfen gedachte;
so werden Sie mir verzeihen, wenn ich mir einbildete, mit meiner Nation ziemlich bekannt zu sein.
Den phantastisch aufgestutzten Studenten, den demütigstolz verlegnen Gelehrten, den
schwankfüßigen genügsamen Domherrn, den steifen aufmerksamen Geschäftsmann, den derben Landbaron,
den freundlich glatt-platten Hofmann, den jungen aus der Bahn schreitenden Geistlichen, den gelassenen,
so wie den schnellen und tätig spekulierenden Kaufmann, alle habe ich in Bewegung gesehen, und
beim Himmel! wenige fanden sich darunter, die mir nur ein gemeines Interesse einzuflößen
im Stande gewesen wären, vielmehr war es mir äußerst verdrießlich, den Beifall der Toren im
einzelnen, mit Beschwerlichkeit und langer Weile, einzukassieren, der mir im Ganzen so wohl
behagt hatte, den ich mir im Großen so gerne zueignete.
Wenn ich über mein Spiel ein vernünftiges Kompliment erwartete, wenn ich hoffte, sie sollten einen
Autor loben, den ich hochschätzte; so machten sie eine alberne Anmerkung über die andere, und
nannten ein abgeschmacktes Stück, in welchem sie wünschten mich spielen zu sehen.
Wenn ich in der Gesellschaft herum horchte, ob nicht etwa ein edler, geistreicher, witziger Zug
nachklänge, und zur rechten Zeit wieder zum Vorschein käme, konnte ich selten eine Spur
vernehmen. Ein Fehler, der vorgekommen war, wenn ein Schauspieler sich versprach oder irgend
einen Provinzialism hören ließ, das waren die wichtigen Punkte, an denen sie sich fest hielten,
von denen sie nicht los kommen konnten. Ich wußte zuletzt nicht, wohin ich mich wenden sollte; sie
dünkten sich zu klug, sich unterhalten zu lassen, und sie glaubten mich wundersam zu unterhalten,
wenn sie an mir herum tätschelten. Ich fing an, sie alle von Herzen zu verachten, und es war mir
eben, als wenn die ganze Nation sich recht vorsätzlich bei mir durch ihre Abgesandte habe
prostituieren wollen. Sie kam mir im Ganzen so links vor, so übel erzogen, so schlecht unterrichtet,
so leer von gefälligem Wesen, so geschmacklos. Oft rief ich aus: es kann doch kein Deutscher einen
Schuh zuschnallen, der es nicht von einer fremden Nation gelernt hat."

[Wilhelm + Aurelie über die Zeit ihres Liebesglücks]
"Ja, mir war wie durch ein Wunder das Verhältnis zum Publikum, zur ganzen Nation verändert. Sie
erschien mir auf einmal wieder in dem vorteilhaftesten Lichte, und ich erstaunte recht über meine
bisherige Verblendung. Wie unverständig, sagte ich oft zu mir selbst, war es, als du ehemals auf
eine Nation schaltest, eben weil es eine Nation ist. Müssen denn, können denn einzelne Menschen
so interessant sein? Keineswegs! Es fragt sich, ob unter der großen Masse eine Menge von Anlagen,
Kräften und Fähigkeiten verteilt sei, die durch günstige Umstände entwickelt, durch vorzügliche
Menschen zu einem gemeinsamen Endzwecke geleitet werden können?
Ich freute mich nun, so wenig hervorstechende Originalität unter meinen Landsleuten zu finden;
ich freute mich, daß sie eine Richtung von außen anzunehmen, nicht verschmähten. Ich freute mich,
einen Anführer gefunden zu haben.
Lothar - Lassen Sie mich meinen Freund mit seinem geliebten Vornamen nennen - hatte mir immer die
Deutschen von der Seite der Tapferkeit vorgestellt, und mir gezeigt, daß keine bravere Nation
in der Welt sei, wenn sie recht geführt werde, und ich schämte mich, an die erste Eigenschaft eines
Volks niemals gedacht zu haben. Ihm war die Geschichte bekannt, und mit den meisten verdienstvollen
Männern seines Zeitalters stand er in Verhältnissen. So jung er war, hatte er ein Auge auf die
hervorkeimende hoffnungsvolle Jugend seines Vaterlandes, auf die stillen Arbeiten in so vielen
Fächern beschäftigter und tätiger Männer. Er ließ mich einen Überblick über Deutschland tun, was
es sei, und was es sein könne, und ich schämte mich, eine Nation nach der verworrenen Menge
beurteilt zu haben, die sich in eine Theatergarderobe drängen mag. Er machte mir's zur Pflicht,
auch in meinem Fache wahr, geistreich und belebend zu sein. Nun schien ich mir selbst inspiriert,
so oft ich auf das Theater trat. Mittelmäßige Stellen wurden zu Gold in meinem Munde, und hätte
mir damals einen Dichter zweckmäßig beigestanden, ich hätte die wunderbarsten Wirkungen
hervorgebracht."

[Wilhelm + Laertes]
"Er (Wilhelm) hatte vieles auf der Reise gesehen, und hoffte daraus ein leidliches Heft zusammen schreiben zu
können. Er merkte nicht, daß er beinah in eben dem Falle war, in dem er sich befand, als er ein
Schauspiel, das weder geschrieben, noch weniger memoriert war, aufzuführen, Lichter angezündet und
Zuschauer herbei gerufen hatte. Als er daher wirklich anfing, an seine Komposition zu gehen, ward
er leider gewahr, daß er von den Empfindungen und Gedanken, von manchen Erfahrungen des Herzens und
Geistes sprechen und erzählen konnte, nur nicht von äußern Gegenständen, denen er, wie er nun merkte,
nicht die mindeste Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
In dieser Verlegenheit kamen die Kenntnisse seines Freundes Laertes ihm gut zu statten. Die Gewohnheit
hatte beide jungen Leute, so unähnlich sie sich waren, zusammen verbunden, und jener war bei allen seinen
Fehlern, mit seinen Sonderbarkeiten wirklich ein interessanter Mensch. Mit einer heitern glücklichen
Sinnlichkeit begabt, hätte er alt werden können, ohne über seinen Zustand irgend nachzudenken.
Nun hatte ihm aber sein Unglück und seine Krankheit das reine Gefühl der Jugend geraubt, und ihm
dagegen einen Blick auf die Vergänglichkeit, auf das Zerstückelte unsers Daseins eröffnet.
Daraus war eine launigte, rhapsodische Art über die Gegenstände zu denken, oder vielmehr ihre
unmittelbaren Eindrücke zu äußern, entstanden.
Er war nicht gern allein, trieb sich auf allen Kaffeehäusern, an allen Wirtstischen herum, und wenn
er ja zu Hause blieb, waren Reisebeschreibungen seine liebste, ja seine einzige Lektüre.
Diese konnte er nun, da er eine große Leihbibliothek fand, nach Wunsch befriedigen, und bald spukte
die halbe Welt in seinem guten Gedächtnisse.
Wie leicht konnte er daher seinem Freunde Mut einsprechen, als dieser ihm den völligen
Mangel an Vorrat zu der von ihm so feierlich versprochenen Relation entdeckte.
Da wollen wir ein Kunststück machen, sagte jener, das seines gleichen nicht haben soll.
Ist nicht Deutschland von einem Ende zum andern durchreist, durchkreuzt, durchzogen, durchkrochen
und durchflogen? und hat nicht jeder deutsche Reisende den herrlichen Vorteil, sich seine großen
oder kleinen Ausgaben vom Publikum wieder erstatten zu lassen? Gib mir nur deine Reiseroute, ehe du
zu uns kamst, das andre weiß ich. Die Quellen und Hülfsmittel zu deinem Werke will ich dir aufsuchen;
an Quadratmeilen, die nicht gemessen sind, und an Volksmenge, die nicht gezählt ist, müssen wir's
nicht fehlen lassen. Die Einkünfte der Länder nehmen wir aus Taschenbüchern und Tabellen, die, wie
bekannt, die zuverlässigsten Dokumente sind. Darauf gründen wir unsre politische Raisonnements;
an Seitenblicken auf die Regierungen solls nicht fehlen. Ein Paar Fürsten beschreiben wir als wahre
Väter des Vaterlandes, damit man uns desto eher glaubt, wenn wir einigen andern etwas anhängen,
und wenn wir nicht geradezu durch den Wohnort einiger berühmten Leute durchreisen, so begegnen wir
ihnen in einem Wirtshause, lassen sie uns im Vertrauen das albernste Zeug sagen, und besonders vergessen
wir nicht eine Liebesgeschichte mit irgend einem naiven Mädchen auf das anmutigste einzuflechten,
und es soll ein Werk geben, das nicht allein Vater und Mutter mit Entzücken erfüllen soll, sondern
das dir auch jeder Buchhändler mit Vergnügen bezahlt.
Man schritt zum Werke, und beide Freunde hatten viel Lust an ihrer Arbeit, indes Wilhelm Abends im
Schauspiel und in dem Umgange mit Serlo und Aurelien die größte Zufriedenheit fand, und seine Ideen,
die nur zu lange sich in einem engen Kreise herum gedreht hatten, täglich weiter ausbreitete."

[Wilhelm + Serlo]
"Von seinen (Serlos) Schicksalen und Abenteuern sprechen wir vielleicht an einem andern Orte, und bemerken
hier nur so viel: daß er in späteren Zeiten, da er schon ein gemachter Mann, im Besitz von entschiedenem
Namen, und in einer sehr guten obgleich nicht festen Lage war, sich angewöhnt hatte, im Gespräch auf
eine feine Weise teils ironisch, teils spöttisch den Sophisten zu machen, und dadurch fast jede
ernsthafte Unterhaltung zu zerstören. Besonders gebrauchte er diese Manier gegen Wilhelm, sobald
dieser, wie es ihm oft begegnete, ein allgemeines theoretisches Gespräch anzuknüpfen Lust hatte.
Demungeachtet waren sie sehr gern beisammen, indem durch ihre beiderseitige Denkart die Unterhaltung
lebhaft werden mußte. Wilhelm wünschte, alles aus den Begriffen, die er gefaßt hatte, zu entwickeln,
und wollte die Kunst in einem Zusammenhange behandelt haben. Er wollte ausgesprochene Regeln
festsetzen, bestimmen, was recht, schön und gut sei, und was Beifall verdiene; genug, er behandelte
alles auf das ernstlichste. Serlo hingegen nahm die Sache sehr leicht, und indem er niemals direkt
auf eine Frage antwortete, wußte er, durch eine Geschichte oder einen Schwank, die artigste und
vergnüglichste Erläuterung beizubringen, und die Gesellschaft zu unterrichten, indem er sie erheiterte."

[Wilhelm - Laertes + Serlo]
"Bei der wunderlichen und gleichsam nur zum Scherz unternommenen Arbeit jener fingierten Reisebeschreibung,
die er (Wilhelm) mit Laertes ausarbeitete, war er auf die Zustände und das tägliche Leben der wirklichen
Welt aufmerksamer geworden, als er sonst nicht gewesen war."

"Er fühlte zum erstenmale, wie angenehm und nützlich es sein könne, sich zur Mittelsperson so vieler
Gewerbe und Bedürfnisse zu machen, und bis in die tiefsten Gebirge und Wälder des festen Landes
Leben und Tätigkeit verbreiten zu helfen. Die lebhafte Handelsstadt, in der er sich befand, gab ihm
bei der Unruhe des Laertes, der ihn überall mit herumschleppte, den anschaulichsten Begriff eines
großen Mittelpunktes, woher alles ausfließt, und wohin alles zurückkehrt, und es war das erstemal,
daß sein Geist im Anschauen dieser Art von Tätigkeit sich wirklich ergetzte. In diesem Zustande hatte
ihm Serlo den Antrag getan, und seine Wünsche, seine Neigung, seine Zutrauen auf ein angebornes
Talent, und seine Verpflichtung gegen die hülflose Gesellschaft wieder rege gemacht.
Da steh ich nun, sagte er zu sich selbst, abermals am Scheideweg zwischen den beiden Frauen, die mir
in meiner Jugend erschienen. Die eine sieht nicht mehr so kümmerlich aus, wie damals, und die andere
nicht so prächtig. Der einen wie der anderen zu folgen fühlst du eine Art von innern Beruf, und
von beiden Seiten sind die äußern Anlässe stark genug; es scheint dir unmöglich dich zu entscheiden,
du wünschest, daß irgend ein Übergewicht von Außen deine Wahl bestimmen möge, und doch, wenn du
dich recht untersuchst, so sind es nur äußere Umstände, die dir eine Neigung zu Gewerb, Erwerb und
Besitz einflößen, aber dein innerstes Bedüfnis erzeugt und nährt den Wunsch, die Anlagen, die in dir
zum Guten und Schönen ruhen mögen, sie seien körperlich oder geistig, immer mehr zu entwickeln und
auszubilden. Und muß ich nicht das Schicksal verehren, das mich ohne mein Zutun hierher an das Ziel
aller meiner Wünsche führt? Geschieht nicht alles, was ich mir ehemals ausgedacht und vorgesetzt, nun
zufällig ohne mein Mitwirken? Sonderbar genug! Der Mensch scheint mit nichts vertrauter zu sein,
als mit seinen Hoffnungen und Wünschen, die er lange im Herzen nährt und bewahrt, und doch, wenn sie
ihm nun begegnen, wenn sie sich ihm gleichsam aufdringen, erkennt er sie nicht und weicht vor ihnen
zurück. Alles, was ich mir vor jener unglücklichen Nacht, die mich von Marianen entfernte, nur
träumen ließ, steht vor mir, und bietet sich mir selbst an. Hierher wollte ich flüchten, und bin sachte
hergeleitet worden; bei Serlo wollte ich unterzukommen suchen, er sucht nun mich, und bietet mir Bedingungen
an, die ich als Anfänger nie erwarten konnte. War es denn bloß Liebe zu Marianen, die mich ans Theater
fesselte? oder war es Liebe zur Kunst, die mich an das Mädchen festknüpfte? War jene Aussicht,
jener Ausweg nach der Bühne bloß einem unordentlichen, unruhigen Menschen willkommen, der ein
Leben fortzusetzen wünschte, das ihm die Verhältnisse der bürgerlichen Welt nicht gestatteten,
oder war es alles anders, reiner, würdiger? und was sollte dich bewegen können, deine damalige
Gesinnung zu ändern? Hast du nicht vielmehr bisher selbst unwissend deinen Plan verfolgt, und ist
nicht jetzt der letzte Schritt noch mehr zu billigen, da keine Nebenabsichten dabei im Spiele sind,
und da du zugleich ein feierliches gegebenes Wort halten, und dich auf eine edle Weise von einer
schweren Schuld befreien kannst?"

[Wilhelm + Aurelie]
"Er hatte Aurelien seine Geschichte mit Marianen vertraut, und konnte sich also jetzt darauf beziehen.
Sie sah ihm starr in die Augen, und fragte: können Sie sagen, daß Sie noch niemals ein Weib betrogen,
daß Sie keiner mit leichtsinniger Galanterie, mit frevelhafter Beteuerung, mit herzlockenden Schwüren
ihre Gunst abzulocken gesucht?
Das kann ich, versetzte Wilhelm, und zwar ohne Ruhmredigkeit; denn mein Leben war sehr einfach,
und ich bin selten in die Versuchung geraten, zu versuchen.
Und welche Warnung, meine schöne, meine edle Freundin, ist mir der traurige Zustand, in den ich Sie
versetzt sehe. Nehmen Sie ein Gelübde von mir, das meinen Herzen ganz angemessen ist, das durch die
Rührung, die Sie mir einflößten, sich bei mir zur Sprache und Form bestimmt, und durch diesen
Augenblick geheiligt wird: jeder flüchtigen Neigung will ich widerstehen, und selbst die ernstlichsten
in meinem Busen bewahren; kein weibliches Geschöpf soll ein Bekenntnis der Liebe von meinen Lippen
vernehmen, dem ich nicht mein ganzes Leben widmen kann.
Sie sah ihn mit einer wilden Gleichgültigkeit an, und entfernte sich, als er ihr die Hand reichte, um
einige Schritte. Es ist nichts daran gelegen, rief sie, so viel Weibertränen mehr oder weniger,
die See wird darum doch nicht wachsen. Doch, fuhr sie fort, unter Tausenden Eine gerettet, das ist doch
Etwas, unter Tausenden Einen Redlichen gefunden, das ist anzunehmen. Wissen Sie auch, was Sie versprechen?
Ich weiß es, versetzte Wilhelm lächelnd, und hielt seine Hand hin."

************************************** 5. Buch *********************************

[Serlo]
"Er pflegte zu sagen: der Mensch ist so geneigt sich mit dem Gemeinsten abzugeben, Geist und Sinne
stumpfen sich so leicht gegen die Eindrücke des Schönen und Vollkommnen ab, daß man die
Fähigkeit es zu empfinden, bei sich auf alle Weise erhalten sollte.
Denn einen solchen Genuß kann niemand ganz entbehren, und nur die Ungewohntheit etwas Gutes
zu genießen ist Ursache, daß viele Menschen schon am Albernen und Abgeschmackten, wenn es nur neu
ist, Vergnügen finden.
Man sollte, sagte er, alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein
treffliches Gemälde sehen, und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen."

[Wilhelm]
"Diese unvermutete Nachricht (vom Tod des Vaters) traf Wilhelm im Innersten. Er fühlte tief, wie
unempfindlich man oft Freunde und Verwandte, so lange sie sich mit uns des irdischen Aufenthaltes erfreuen,
vernachlässigt, und nur dann erst die Versäumnis bereut, wenn das schöne Verhältnis wenigstens für
diesmal aufgehoben ist.
Auch konnte der Schmerz über das zeitige Absterben des braven Mannes nur durch das Gefühl gelindert
werden, daß er auf der Welt wenig geliebt, und durch die Überzeugung, daß er wenig genossen habe.
Wilhelms Gedanken wandten sich nun bald auf seine eigenen Verhältnisse, und er fühlte sich nicht wenig
beunruhigt. Der Mensch kann in keine gefährlichere Lage versetzt werden, als wenn durch äußere Umstände
eine große Veränderung seines Zustandes bewirkt wird, ohne daß seine Art zu empfinden und zu denken
darauf vorbereitet ist. Es gibt alsdann eine Epoche ohne Epoche, und es entsteht nur ein desto
größerer Widerspruch, je weniger der Mensch bemerkt, daß er zu dem neuen Zustande noch nicht
ausgebildet sei.
Wilhelm sah sich in einem Augenblick frei, in welchem er mit sich selbst noch nicht einig werden
konnte. Seine Gesinnungen waren edel, seine Absichten lauter und seine Vorsätze schienen nicht
verwerflich. Das alles durfte er sich mit einigem Zutrauen selbst bekennen; allein er hatte
Gelegenheit genug gehabt zu bemerken, daß es ihm an Erfahrung fehle, und er legte daher auf die
Erfahrung anderer und auf die Resultate, die sie daraus mit Überzeugung ableiteten, einen übermäßigen
Wert, und kam dadurch nur immer mehr in die Irre. Was ihm fehlte, glaubte er am ersten zu erwerben,
wenn er alles Denkwürdige, was ihm in Büchern und im Gespräche vorkommen mochte, zu erhalten
und zu sammlen unternähme. Er schrieb daher fremde und eigene Meinungen und Ideen, ja ganze
Gespräche die ihm interessant waren, auf, und hielt leider auf diese Weise das Falsche so gut als das
Wahre fest, blieb viel zu lange an Einer Idee, ja man möchte sagen an Einer Sentenz hängen,
und verließ dabei seine natürliche Denk- und Handelsweise, indem er oft fremden Lichtern als
Leitsternen folgte."

"So entfernte sich Wilhelm, indem er mit sich selbst einig zu werden strebte, immer mehr von der
heilsamen Einheit, und bei dieser Verwirrung ward es seinen Leidenschaften um so leichter
alle Zurüstungen zu ihrem Vorteil zu gebrauchen, und ihn über das was er zu tun hatte
nur noch mehr zu verwirren."

[Werner, nun auch Wilhelms Schwager - Brief an Wilhelm]
"Das große Haus verkaufen wir, wozu sich sogleich eine gute Gelegenheit darbietet; das daraus
gelöste Geld soll hundertfältige Zinsen tragen.
Ich hoffe du bist damit einverstanden, und wünsche daß du nichts von den unfruchtbaren Liebhabereien
deines Vaters und Großvaters geerbt haben mögest. Dieser setzte seine höchste Glückseligkeit
in eine Anzahl unscheinbarer Kunstwerke, die niemand, ich darf wohl sagen niemand mit ihm
genießen konnte: jener lebte in einer kostbaren Einrichtung, die er niemand mit sich genießen ließ.
Wir wollen es anders machen, und ich hoffe auf deine Beistimmung."

"Es ist mir nichts unerträglicher, als so ein alter Kram von Besitztum. Wenn man mir den kostbarsten
Edelstein schenken wollte, mit der Bedingung ihn täglich am Finger zu tragen, ich würde ihn nicht
annehmen; denn wie läßt sich bei einem toten Kapital nur irgend eine Freude denken?
Das ist also mein lustiges Glaubensbekenntnis: seine Geschäfte verrichtet, Geld geschafft, sich mit
den Seinigen lustig gemacht und um die übrige Welt sich nicht mehr bekümmert, als in so fern man sie
nutzen kann."

"Sage nur, wie hast du es angefangen, in so wenigen Wochen ein Kenner aller nützlichen und
interessanten Gegenstände zu werden? So viel Fähigkeiten ich an dir kenne, hätte ich dir doch
solche Aufmerksamkeit und solchen Fleiß nicht zugetraut. Dein Tagebuch hat uns überzeugt, mit
welchem Nutzen du die Reise gemacht hast; die Beschreibung der Eisen- und Kupferhämmer ist
vortrefflich und zeigt von vieler Einsicht in die Sache. Ich habe sie ehemals auch besucht, aber
meine Relation, wenn ich sie dagegen halte, sieht sehr stümpermäßig aus."

"Jetzt lebe wohl! Genieße das Leben auf der Reise, und ziehe hin, wo du es vergnüglich und nützlich
findest. Vor dem ersten halben Jahr bedürfen wir deiner nicht; du kannst dich also nach
Belieben in der Welt umsehen, denn die beste Bildung findet ein gescheuter Mensch auf Reisen."

"So gut der Brief geschrieben war, und soviel ökonomische Wahrheiten er enthalten mochte, mißfiel er
doch Wilhelmen auf mehr als eine Weise. Das Lob, das er über seine fingierten statistischen,
technologischen und ruralischen Kenntnisse erhielt, war ihm ein stiller Vorwurf; und das Ideal, das
ihm sein Schwager vom Glück des bürgerlichen Lebens vorzeichnete, reizte ihn keineswegs; vielmehr
ward er durch einen heimlichen Geist des Widerspruches mit Heftigkeit auf die entgegen gesetzte Seite
getrieben. Er überzeugte sich, daß er nur auf dem Theater die Bildung, die er sich zu geben wünschte,
vollenden könne, und schien in seinem Entschlusse nur destomehr bestärkt zu werden, je lebhafter
Werner, ohne es zu wissen, sein Gegner geworden war."

[Wilhelms - Antwortbrief an Werner]
"Dein Brief ist so wohl geschrieben, und so gescheut und klug gedacht, daß sich nichts mehr dazu
setzen läßt. Du wirst mir aber verzeihen, wenn ich sage, daß man gerade das Gegenteil davon
meinen, behaupten und tun und doch auch recht haben kann. Deine Art zu sein und zu denken geht auf einen
unbeschränkten Besitz und auf eine leichte lustige Art zu genießen hinaus, und ich brauche dir
kaum zu sagen, daß ich daran nichts was mich reizte finden kann.
Zuerst muß ich dir leider bekennen, daß mein Tagebuch aus Not, um meinem Vater gefällig zu sein, mit
Hülfe eines Freundes aus mehreren Büchern zusammen geschrieben ist, und das ich wohl die darin
enthaltenen Sachen und noch mehrere dieser Art weiß, aber keineswegs verstehe, noch mich damit
abgeben mag. Was hilft es mir, gutes Eisen zu fabrizieren, wenn mein eigenes Innere voller
Schlacken ist? und was, ein Landgut in Ordnung zu bringen, wenn ich mit mir selber immer uneins bin?
Daß ich dir's mit Einem Worte sage, mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel
von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht. Noch hege ich eben diese Gesinnungen, nur das mir die Mittel,
die mir es möglich machen werden, etwas deutlicher sind. Ich habe mehr Welt gesehen, als du glaubst,
und sie besser benutzt, als du denkst.
Schenke deshalb dem, was ich sage, einige Aufmerksamkeit, wenn es gleich nicht ganz nach deinem Sinne sein
sollte.
Wäre ich ein Edelmann, so wäre unser Streit bald abgetan; da ich aber nur ein Bürger bin, so muß ich
einen eigenen Weg nehmen, und ich wünsche, daß du mich verstehen mögest.
Ich weiß nicht wie es in fremden Ländern ist, aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse
allgemeine, wenn ich sagen darf personelle Ausbildung möglich. Ein Bürger kann sich Verdienst
erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; seine Persönlichkeit geht aber verloren, er
mag sich stellen wie er will.
Indem es dem Edelmann, der mit den Vornehmsten umgeht, zur Pflicht wird, sich selbst einen vornehmen
Anstand zu geben, indem dieser Anstand, da ihm weder Tür noch Tor verschlossen ist, zu einem freien
Anstand wird, da er mit seiner Figur, mit seiner Person, es sei bei Hofe oder bei der Armee, bezahlen
muß, so hat er Ursache etwas auf sie zu halten, und zu zeigen, daß er etwas auf sie hält.
Eine gewisse feierliche Grazie bei gewöhnlichen Dingen, eine Art von leichtsinniger Zierlichkeit
bei ernsthaften und wichtigen kleidet ihn wohl, weil er sehen läßt, daß er überall im Gleichgewicht
steht. Er ist eine öffentliche Person, und je ausgebildeter seine Bewegungen, je sonorer seine Stimme,
je gehaltner und gemeßner sein ganzes Wesen ist, desto vollkommener ist er, und wenn er gegen
hohe und niedre, gegen Freunde und Verwandte immer eben derselbe bleibt, so ist nichts an ihm
auszusetzen, man darf ihn nicht anders wünschen. Er sei kalt, aber verständig; verstellt, aber klug.
Wenn er sich äußerlich in jedem Moment seines Lebens zu beherrschen weiß, so hat niemand eine weitere
Forderung an ihn zu machen, und alles übrige, was er an und um sich hat, Fähigkeit, Talent, Reichtum,
alles scheinen nur Zugaben zu sein.
Nun denke dir irgend einen Bürger, der an jene Vorzüge nur einigen Anspruch zu machen gedächte; durchaus
muß es ihm mißlingen, und er müßte nur desto unglücklicher werden, je mehr sein Naturell ihm zu jener Art
zu sein Fähigkeit und Trieb gegeben hätte.
Wenn der Edelmann im gemeinen Leben gar keine Grenzen kennt, wenn man aus ihm Könige oder königähnliche
Figuren erschaffen kann; so darf er überall mit einem stillen Bewußtsein vor seines gleichen treten;
er darf überall vorwärts dringen, anstatt daß dem Bürger nichts besseres ansteht, als das reine
stille Gefühl der Grenzlinie die ihm gezogen ist. Er darf nicht fragen: was bist du? sondern nur: was
hast du? Welche Einsicht, welche Kenntnis, welche Fähigkeit, wieviel Vermögen? Wenn der Edelmann durch die
Darstellung seiner Person alles gibt, so gibt der Bürger durch seine Persönlichkeit nichts und soll
nichts geben. Jener darf und soll scheinen; dieser soll nur sein, und was er scheinen will ist
lächerlich oder abgeschmackt. Jener soll tun und wirken, dieser soll leisten und schaffen; er soll
einzelne Fähigkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden, und es wird schon voraus gesetzt, daß in seinem
Wesen keine Harmonie sei, noch sein dürfe, weil er, um sich auf Eine Weise brauchbar zu machen, alles
übrige vernachlässigen muß.
An diesem Unterschiede ist nicht etwa die Anmaßung der Edelleute und die Nachgiebigkeit der Bürger,
sondern die Verfassung der Gesellschaft selbst Schuld; ob sich daran einmal was ändern wird und was
sich ändern wird, bekümmert mich wenig; genug, ich habe, wie die Sachen jetzt stehen, an
mich selbst zu denken, und wie ich mich selbst und das was mir ein unerläßliches Bedürfnis ist, rette und
erreiche.
Ich habe nun einmal gerade zu jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt,
eine unwiderstehliche Neigung."

"Nun leugne ich dir nicht, daß mein Trieb täglich unüberwindlicher wird, eine öffentliche Person
zu sein, und in einem weitern Kreise zu gefallen und zu wirken. Dazu kömmt meine Neigung zur
Dichtkunst und zu allem, was mit ihr in Verbindung steht, und das Bedürfnis meinen Geist und
Geschmack auszubilden, damit ich nach und nach auch bei dem Genuß, den ich nicht entbehren kann,
nur das Gute wirklich für gut und das Schöne für schön halte. Du siehst wohl, daß das alles für mich
nur auf dem Theater zu finden ist, und daß ich mich in diesem einzigen Elemente nach Wunsch
rühren und ausbilden kann. Auf den Brettern erscheint der gebildete Mensch so gut persönlich
in seinem Glanz als in den obern Klassen; Geist und Körper müssen bei jeder Bemühung
gleichen Schritt gehen, und ich werde da so gut sein und scheinen können, als irgend anderswo."

[Wilhelm + Serlo}
"Eine der Bedingungen, unter denen Wilhelm sich aufs Theater begab, war von Serlo nicht ohne
Einschränkung zugestanden worden. Jener verlangte, daß Hamlet ganz und unzerstückt aufgeführt
werden sollte, und dieser ließ sich das wunderliche Begehren in so fern gefallen, als es möglich
sein würde. Nun hatten sie hierüber bisher manchen Streit gehabt; denn was möglich oder nicht möglich
sei, und was man von dem Stücke weglassen könne, ohne es zu zerstücken, darüber waren beide sehr
verschiedener Meinung.
Wilhelm befand sich noch in den glücklichen Zeiten, da man nicht begreifen kann, daß an einem
geliebten Mädchen, an einem verehrten Schriftsteller irgend etwas mangelhaft sein könne.
Unsere Empfindung von Ihnen ist so ganz, so mit sich selbst übereinstimmend, daß wir uns auch
in Ihnen eine solche vollkommene Harmonie denken müssen. Serlo hingegen sonderte gern und beinah
zu viel; sein scharfer Verstand wollte in einem Kunstwerke gewöhnlich nur ein mehr oder weniger
unvollkommenes Ganze erkennen. Er glaubte, so wie man Stücke finde, habe man wenig Ursache mit ihnen
so gar bedächtig umzugehen, und so mußte auch Shakespear, so mußte besonders Hamlet vieles leiden.
Wilhelm wollte gar nicht hören, wenn jener von der Absonderung der Spreu von dem Weizen sprach.
Es ist nicht Spreu und Weizen durcheinander, rief dieser, es ist ein Stamm, Äste, Zweige, Blätter,
Knospen, Blüten und Früchte. Ist nicht eins mit dem andern und durch das andere? Jener behauptete,
man bringe nicht den ganzen Stamm auf den Tisch, der Künstler müsse goldne Äpfel in silbernen
Schalen seinen Gästen reichen. Sie erschöpften sich in Gleichnissen, und ihre Meinungen schienen
sich immer weiter von einander zu entfernen.
Gar verzweifeln wollte unser Freund, als Serlo ihm einst nach langem Streit das einfachste Mittel
anriet, sich kurz zu resolvieren, die Feder zu ergreifen und in dem Trauerspiele, was eben nicht
gehen wolle noch könne, abzustreichen, mehrere Personen in Eine zu drängen, und wenn er mit dieser
Art noch nicht bekannt genug sei, oder noch nicht Herz genug dazu habe, so solle er ihm die Arbeit
überlassen, und er wolle bald fertig sein.

"Ich (Serlo) kenne das Abscheuliche dieser Manier nur zu wohl, die vielleicht noch auf keinem Theater der
Welt statt gefunden hat. Aber wo ist auch eins so verwahrlost als das unsere? Zu dieser ekelhaften
Verstümmelung zwingen uns die Autoren, und das Publikum erlaubt sie. Wie viel Stücke haben wir
denn, die nicht über das Maß des Personals, der Dekorationen und Theatermechanik, der Zeit, des
Dialogs und der physischen Kräfte des Acteurs hinausschritten? und doch sollen wir spielen und
und immer spielen und immer neu spielen. Sollen wir uns dabei nicht unsres Vorteils bedienen,
da wir mit zerstückelten Werken ebenso so viel ausrichten als mit ganzen? Setzt uns das Publikum
doch selbst in den Vorteil! Wenig Deutsche, und vielleicht nur wenige Menschen aller neuern
Nationen, haben Gefühl für ein ästhetisches Ganze; sie loben und tadeln nur stellenweise; sie
entzücken sich nur stellenweise: und für wen ist das ein größeres Glück als für den Schauspieler,
da das Theater doch immer nur ein gestoppeltes und gestückeltes Wesen bleibt.
Ist! versetzte Wilhelm; aber muß es denn auch so bleiben, muß denn alles bleiben was ist?"

"Ich (Wilhelm) unterscheide, nach der genausten Untersuchung, nach der reiflichsten Überlegung, in der
Komposition dieses Stücks, zweierlei: das erste sind die großen innern Verhältnisse der
Personen und der Begebenheiten, die mächtigen Wirkungen, die aus den Charakteren und Handlungen
der Hauptfiguren entstehen, und diese sind einzeln fürtrefflich, und die Folge, in der sie
aufgestellt sind, unverbesserlich. Sie können durch keine Art von Behandlung zerstört, ja kaum
verunstaltet werden. Diese sinds, die jederman zu sehen verlangt, die niemand anzutasten wagt,
die sich tief in die Seele eindrücken und die man, wie ich höre, beinahe alle auf das deutsche
Theater gebracht hat. Nur hat man, wie ich glaube, darin gefehlt, daß man das zweite, was bei
diesem Stück zu bemerken ist, ich meine die äußeren Verhältnisse der Personen, wodurch sie
von einem Orte zum andern gebracht, oder auf diese und jene Weise durch gewissen zufällige
Begebenheiten verbunden werden, für allzuunbedeutend angesehen, nur im vorbeigehn davon
gesprochen, oder sie gar weggelassen hat.
Freilich sind diese Fäden nur dünn und lose, aber sie gehen doch durchs ganze Stück, und halten
zusammen , was sonst auseinander fiele, auch wirklich auseinander fällt, wenn man sie wegschneidet,
und ein übriges getan zu haben glaubt, wenn man die Enden stehen läßt."

"Diese Fehler sind wie flüchtige Stützen eines Gebäudes, die man nicht wegnehmen darf, ohne vorher
eine feste Mauer unterzuziehen. Mein Vorschlag ist also, an jenen ersten großen Situationen gar nicht
zu rühren, sondern sie sowohl im Ganzen als Einzelnen möglichst zu schonen, aber diese äußern, einzelnen,
zerstreuten und zerstreuenden Motive alle auf einmal weg zu werfen und ihnen ein Einziges zu
substituieren."

[Wilhelm]
"Wilhelm hatte sich schon lange mit einer Übersetzung Hamlets abgegeben; er hatte sich dabei der
geistvollen Wielandschen Arbeit bedient, durch die er überhaupt Shakespearn zuerst kennen lernte.
Was in derselben ausgelassen war, fügte er hinzu, und so war er im Besitz eines vollständigen
Exemplars in dem Augenblicke, da er mit Serlo über die Behandlung so ziemlich einig geworden
war. Er fing nun an nach seinem Plane auszuheben und einzuschieben, zu trennen und zu verbinden,
zu verändern und oft wieder herzustellen; denn so zufrieden er auch mit seiner Idee war, so
schien ihm doch bei der Ausführung immer, daß das Original nur verdorben werde."

[Wilhelm + Serlo]
"Fernern hatte Wilhelm in seinem Stücke die beiden Rollen von Rosenkranz und Güldenstern stehen lassen.
Warum haben Sie diese nicht in Eine verbunden? fragte Serlo, diese Abbreviatur ist doch so leicht
gemacht.
Gott bewahre mich vor solchen Verkürzungen, die zugleich Sinn und Wirkung aufheben, versetzte
Wilhelm. Das was diese beiden Menschen sind und tun, kann nicht durch Einen vorgestellt werden.
In solchen Kleinigkeiten zeigt sich Shakespears Größe. Dieses leise Auftreten, dieses Schmiegen und
Biegen, dies Ja sagen, Streicheln und Schmeicheln, diese Behendigkeit, dieses Schwänzeln, diese
Allheit und Leerheit, diese rechtliche Schurkerei, diese Unfähigkeit, wie kann sie durch Einen
Menschen ausgedruckt werden? Es sollten ihrer wenigstens ein Dutzend sein, wenn man sie haben könnte,
denn sie sind bloß etwas in Gesellschaft; sie sind die Gesellschaft und Shakespear war sehr
bescheiden und weise, daß er nur zwei solche Repräsentanten auftreten ließ. Überdies brauche ich
sie in meiner Bearbeitung als ein Paar, das mit dem Einen, guten, trefflichen Horatio kontrastiert."

[Wilhelm + Serlo + die Theatergesellschaft]
"Einen Abend stritt die Gesellschaft ob der Roman oder das Drama den Vorzug verdiene? Serlo versicherte,
es sei ein vergeblicher, mißverstandner Streit; beide könnten in ihrer Art vortrefflich sein, nur
müßten sie sich in den Grenzen ihrer Gattung halten.
Ich bin selbst noch nicht ganz im Klaren darüber, versetzte Wilhelm. Wer ist es auch? sagte Serlo, und doch
wäre es der Mühe wert, daß man der Sache näher käme.
Sie sprachen viel herüber und hinüber, und endlich war folgendes ohngefähr das Resultat ihrer
Unterhaltung:
Im Roman wie im Drama sehen wir menschliche Natur und Handlung. Der Unterschied beider Dichtungsarten
liegt nicht bloß in der äußern Form, nicht darin, daß die Personen in dem einen sprechen, und daß in
dem andern gewöhnlich von ihnen erzählt wird. Leider viele Dramas sind nur dialogierte Romane, und
es wäre nicht unmöglich ein Drama in Briefen zu schreiben.
Im Roman sollen vorzüglich Gesinnungen und Begebenheiten vorgestellt werden; im Drama Charaktere und
Taten. Der Roman muß langsam gehen, und die Gesinnungen der Hauptfigur müssen, es sei auf welche
Weise es wolle, das Vordringen des Ganzen zur Entwickelung aufhalten. Das Drama soll eilen, und der
Charakter der Hauptfigur muß sich nach dem Ende drängen, und nur aufgehalten werden.
Der Romanheld muß leidend, wenigstens nicht im hohen Grade wirkend sein; von dem dramatischen verlangt
man Wirkung und Tat."

"Im Drama modelt der Held nichts nach sich, alles widersteht ihm, und er räumt und rückt die Hindernisse
aus dem Wege, oder unterliegt ihnen.
So vereinigte man sich auch darüber, daß man dem Zufall im Roman gar wohl sein Spiel erlauben könne;
daß er aber immer durch die Gesinnungen der Personen gelenkt und geleitet werden müsse; daß hingegen
das Schicksal, das die Menschen, ohne ihr Zutun, durch unzusammenhängende äußere Umstände
zu einer unvorgesehenen Katastrophe hindrängt, nur im Drama statt habe; daß der Zufall wohl pathetische,
niemals aber tragische, Situationen hervorbringen dürfe; das Schicksal hingegen müsse immer
fürchterlich sein, und werde im höchsten Sinne tragisch, wenn es schuldige und unschuldige
von einander unabhängige Taten in eine unglückliche Verknüpfung bringt."

"Nun sollte Leseprobe gehalten werden, welche Wilhelm eigentlich als ein Fest ansah. Er hatte die Rollen
vorher kollationiert, daß also von dieser Seite kein Anstoß sein konnte. Die sämtlichen Schauspieler
waren mit dem Stücke bekannt, und er suchte sie nur, ehe sie anfingen, von der Wichtigkeit einer
Leseprobe zu überzeugen. Wie man von jedem Musikus verlange, daß er, bis auf einen gewissen Grad,
vom Blatte spielen könne, so solle auch jeder Schauspieler, ja jeder wohlerzogene Mensch, sich
üben vom Blatte zu lesen, einem Drama, einem Gedicht, einer Erzählung sogleich ihren Charakter abzugewinnen,
und sie mit Fertigkeit vorzutragen. Alles Memorieren helfe nichts, wenn der Schauspieler nicht vorher
in den Geist und Sinn des guten Schriftstellers eingedrungen sei, der Buchstabe könne nichts wirken."

"Sie haben wohl getan, mein Freund, sagte Serlo, nachdem sie wieder allein waren, daß Sie unsern
Mitarbeitern so ernstlich zusprachen, wenn ich gleich fürchte, daß sie Ihre Wünsche schwerlich
erfüllen werden.
Wie so? versetzte Wilhelm.
Ich habe gefunden, sagte Serlo, daß so leicht man der Menschen Imagination in Bewegung setzen kann,
so gern sie sich Märchen erzählen lassen, eben so selten ist es, eine Art von produktiver Imagination
bei Ihnen zu finden. Bei den Schauspielern ist dieses sehr auffallend.
Jeder ist sehr wohl zufrieden eine schöne lobenswürdige brillante Rolle zu übernehmen; selten aber
tut einer mehr, als sich mit Selbstgefälligkeit an die Stelle des Heldens zu setzen, ohne sich im
mindestens zu bekümmern, ob ihn auch jemand dafür halten werde. Aber mit Lebhaftigkeit zu umfassen
was sich der Autor beim Stück gedacht hat, was man von seiner Individualität hingeben müsse, um
einer Rolle genug zu tun, wie man durch eigene Überzeugung, man sei ein ganz anderer Mensch, den
Zuschauer gleichfalls zur Überzeugung hinreiße; wie man, durch eine innere
Wahrheit der Darstellungskraft, diese Bretter im Tempel, diese Pappen in Wälder verwandelt, ist
wenigen gegeben. Diese innere Stärke des Geistes, wodurch ganz allein der Zuschauer getäuscht wird,
diese erlogene Wahrheit, die ganz allein Wirkung hervorbringt, wodurch ganz allein die Illusion erzielt
wird, wer hat davon einen Begriff?
Lassen Sie uns daher ja nicht zu sehr auf Geist und Empfindung dringen! Das sicherste Mittel ist, wenn
wir unsern Freunden mit Gelassenheit zuerst den Sinn des Buchstabens erklären, und ihnen den Verstand
eröffnen. Wer Anlage hat, eilt alsdann selbst dem geistreichen und empfindungsvollen Ausdruck entgegen;
und wer sie nicht hat, wird wenigstens niemals ganz falsch spielen und rezitieren. Ich habe aber
bei Schauspielern, so wie überhaupt, keine schlimmere Anmaßung gefunden, als wenn jemand Ansprüche
an Geist macht, so lange ihm der Buchstabe noch nicht deutlich und geläufig ist."

[Dialog: Wilhelm - Serlo]
"Sind Sie auch unerbittlich, daß Hamlet am Ende sterben muß? fragte Serlo.
Wie kann ich ihn am Leben erhalten, sagte Wilhelm, da ihn das ganze Stück zu Tode drückt? Wir haben
ja schon so weitläufig darüber gesprochen.
(Serlo) Aber das Publikum wünscht ihn lebendig.
(Wilhelm) Ich will ihm gern jeden andern Gefallen tun, nur diesmal ists es unmöglich. Wir wünschen auch,
daß ein braver nützlicher Mann, der an einer chronischen Krankheit stirbt, noch länger leben möge.
Die Familie weint und beschwört den Arzt, der ihn nicht halten kann: und so wenig als dieser einer
Natur-Notwendigkeit zu widerstehen vermag, so können wir einer anerkannten Kunstnotwendigkeit
gebieten. Es ist ein falsche Nachgiebigkeit gegen die Menge, wenn man ihnen die Empfindungen
erregt, die sie haben wollen, und nicht die sie haben sollen.
(Serlo) Wer das Geld bringt, kann die Ware nach seinem Sinne verlangen.
(Wilhelm) Gewissermaßen; aber ein großes Publikum verdient daß man es achte, daß man es nicht wie Kinder,
denen man das Geld abnehmen will, behandle. Man bringe ihm nach und nach durch das Gute - Gefühl
und Geschmack für das Gute bei, und es wird sein Geld mit doppeltem Vergnügen einlegen, weil
ihm der Verstand, ja die Vernunft selbst bei dieser Ausgabe nichts vorzuwerfen hat.
Man kann ihm schmeicheln wie einem geliebten Kinde, schmeicheln um es zu bessern, um es künftig
auzuklären; nicht wie einem Vornehmen und Reichen, um den Irrtum, den man nutzt, zu verewigen."

[Wilhelm + Serlo + Aurelie]
"Gewiß, rief Serlo, ich werde froh sein, wenn das Stück morgen gegeben ist, es macht uns mehr Umstände,
als ich geglaubt habe. Aber niemand in der Welt wird froher sein, als ich, wenn das Stück morgen gespielt
ist, versetzte Philine, so wenig mich meine Rolle drückt. Denn immer und ewig von Einer Sache reden zu hören,
wobei doch nichts weiter heraus kommt als eine Repräsentation, die, wie so viele hundert andere, vergessen
werden wird, dazu will meine Geduld nicht hinreichen. Macht doch in Gottesnamen nicht so viel Umstände!
Die Gäste die vom Tische aufstehen, haben nachher an jedem Gerichte was auszusetzen; ja wenn man sie
zu Hause reden hört, so ist es ihnen kaum begreiflich, wie sie eine solche Not haben ausstehen
können.
Lassen sie mich Ihr Gleichnis zu meinem Vorteile brauchen, schönes Kind, versetzte Wilhelm.
Bedenken Sie was Natur und Kunst, was Handel, Gewerke und Gewerbe zusammen schaffen müssen,
bis ein Gastmahl gegeben werden kann. Wie viel Jahre muß der Hirsch im Walde, der Fisch im
Fluß oder Meere zubringen, bis er unsre Tafel zu besetzen würdig ist, und was hat die Hausfrau,
die Köchin nicht alles in der Küche zu tun? Mit welcher Nachlässigkeit schlürft man die Sorge
des entferntesten Winzers, des Schiffers, des Kellermeisters, beim Nachtische hinunter, als müsse
es nur so sein. Und sollten deswegen alle diese Menschen nicht arbeiten, nicht schaffen und
bereiten, sollte der Hausherr das alles nicht sorgfältig zusammenbringen und zusammen halten,
weil am Ende der Genuß nur vorübergehend ist? Aber kein Genuß ist vorübergehend; denn der
Eindruck den er zurückläßt ist bleibend, und was man mit Fleiß und Anstrengung tut, teilt
dem Zuschauer selbst eine verborgene Kraft mit, von der man nicht wissen kann wie weit sie
wirkt."

[Wilhelm + Aurelie, im Gespräch über Philine]
"Es ist mir beinahe unmöglich ein freundliches höfliches Wort mit ihr zur reden, so sehr hasse ich
sie, und doch ist sie so anschmiegend. Ich wollte wir wären sie los. Auch Sie, mein Freund,
haben eine gewisse Gefälligkeit gegen dieses Geschöpf, ein Betragen, das mich in der Seele
kränkt, eine Aufmerksamkeit, die an Achtung grenzt, und die sie bei Gott nicht verdient!
Wie sie ist, bin ich ihr Dank schuldig, versetzte Wilhelm; ihre Aufführung ist zu tadeln, ihrem
Charakter muß ich Gerechtigkeit wiederfahren lassen.
Charakter! rief Aurelie: glauben Sie, daß so eine Kreatur einen Charakter hat? O ihr Männer,
daran erkenne ich euch! Solcher Frauen seid ihr wert!
Sollten Sie mich in Verdacht haben, meine Freundin? versetzte Wilhelm. Ich will von jeder Minute
Rechenschaft geben, die ich mit ihr zugebracht habe.
Nun, nun, sagte Aurelie, es ist spät, wir wollen nicht streiten. Alle wie einer, einer wie alle!
Gute Nacht mein Freund! Gute Nacht mein feiner Paradiesvogel!
Wilhelm fragte, wie er zu diesem Ehrentitel komme?
Ein andermal, versetzte Aurelie, ein andermal. Man sagt, die hätten keine Füße, sie schwebten nur
in der Luft, und nährten sich vom Äther. Es ist aber ein Märchen, fuhr sie fort, eine poetische
Fiktion. Gute Nacht, laßt euch was schönes träumen wenn ihr Glück habt.
Sie ging in ihr Zimmer und ließ ihn allein; er eilte auf das seinige.
Halb unwillig ging er auf und nieder. Der scherzende aber entschiedne Ton Aureliens hatte ihn
beleidigt; er fühlte tief wie Unrecht sie ihm tat. Philinen konnte er nicht widrig, nicht unhold
begegnen; sie hatte nichts gegen ihn verbrochen, und dann fühlte er sich so fern von jeder Neigung
zu ihr, daß er recht stolz und standhaft vor sich selbst bestehen konnte.
Eben war er im Begriffe sich auszuziehen, nach seinem Lager zu gehen und die Vorhänge aufzuschlagen,
als er zu seiner größten Verwunderung ein Paar Frauenpantoffeln vor dem Bette erblickte; der
eine stand, der andere lag. - Es waren Philinens Pantoffeln, die er nur zu gut erkannte;[...]."

[Wilhelm allein]
"Kein Schlaf stellte sich ein; er setzte die Pantoffeln auf seinen Tisch, ging auf und nieder, blieb
manchmal bei dem Tische stehen, und ein schelmischer Genius, der ihn belauschte, will versichern:
er habe sich einen großen Teil der Nacht mit den allerliebsten Stelzchen beschäftigt;
er habe sie mit einem gewissen Interesse angesehen, behandelt, damit gespielt, und sich erst gegen
Morgen in seinen Kleidern aufs Bette geworfen, wo er unter den seltsamsten Phantasien einschlummerte."

[Wilhelm + die Theatergesellschaft]
"Die Zeit einer angesetzten Lesprobe kam nun herbei, man versammelte sich und alle waren durch das
gestrige Fest verstimmt. Wilhelm nahm sich zusammen so gut er konnte, um nicht gleich anfangs gegen
seine so lebhaft gepredigten Grundsätze zu verstoßen. Seine große Übung half ihm durch; denn
Übung und Gewohneit müssen in jeder Kunst die Lücken ausfüllen, welche Genie und Laune so oft
lassen würden.
Eigentlich aber konnte man bei dieser Gelegenheit die Bemerkung recht wahr finden, daß man keinen
Zustand, der länger dauern, ja der eigentlich ein Beruf, eine Lebensweise werden soll, mit einer Feierlichkeit
anfangen dürfe. Man feire nur was glücklich vollendet ist, alle Zeremonien zum Anfange erschöpfen Lust und
Kräfte, die das Streben hervor bringen und uns bei einer fortgesetzten Mühe beistehen sollen.
Unter allen Festen ist das Hochzeitsfest das unschicklichste; keines sollte mehr in Stille, Demut und Hoffnung
begangen werden als dieses."

"Überhaupt ist es leider der Fall, daß alles was durch mehrere zusammentreffende Menschen und Umstände
hervorgebracht werden soll, keine lange Zeit sich vollkommen erhalten kann. Von einer Theatergesellschaft
so gut wie von einem Reiche, von einem Zirkel Freunde so gut wie von einer Armee läßt sich
gewöhnlich der Moment angeben, wenn sie auf der höchsten Stufe ihrer Vollkommenheit, ihrer Übereinstimmung,
ihrer Zufriedenheit und Tätigkeit standen; oft aber verändert sich schnell das Personal, neue Glieder
treten hinzu, die Personen passen nicht mehr zu den Umständen, die Umstände nicht mehr zu den
Personen; es wird alles anders, und was vorher verbunden war, fällt nunmehr bald auseinander."

"Das Publikum hat eine eigene Art, gegen öffentliche Menschen von anerkannten Verdienst zu verfahren; es
fängt nach und nach an gleichgültig gegen sie zu werden, und begünstigt viel geringere aber neu
erscheinende Talente, es macht an jene übertriebene Forderungen, und läßt sich von diesen
alles gefallen."

"Nun gab es bald auch innerliche Unruhen und manches Mißvergnügen; denn kaum bemerkte man, daß Wilhelm
die Beschäftigung eines Regisseurs übernommen hatte, so fingen die meisten Schauspieler um desto mehr
an unartig zu werden, als er nach seiner Weise etwas mehr Ordnung und Genauigkeit in das Ganze zu bringen
wünschte, und besonders darauf bestand, daß alles mechanische vor allen Dingen pünktlich und ordentlich
gehen solle.
In kurzer Zeit ward das ganze Verhältnis, das wirklich eine Zeitlang beinahe idealisch gehalten hatte,
so gemein, als man es nur irgend bei einem herumreisenden Theater finden mag. Und leider in dem
Augenblicke, als Wilhelm durch Mühe, Fleiß und Anstrengung sich mit allen Erfordernissen des Metiers
bekannt gemacht und seine Person sowohl als seine Geschäftstätigkeit vollkommen dazu gebildet hatte,
schien es ihm endlich in trüben Stunden, daß dieses Handwerk weniger als irgend ein anders, den
nötigen Aufwand von Zeit und Kräften verdiene. Das Geschäft war lästig und die Belohnung gering.
Er hätte jedes andere lieber übernommen, bei dem man doch, wenn es vorbei ist, der Ruhe des Geistes
genießen kann, als dieses, wo man nach überstandenen mechanischen Mühseligkeiten noch durch
die höchste Anstrengung des Geistes und der Empfindung erst das Ziel seiner Tätigkeit erreichen soll."

[Wilhelm + ein Geistlicher - über den Harfenspieler]
"Der Geistliche begrüßte Wilhelmen auf das freundlichste und erzählte ihm, daß der Alte (Harfenspieler)
sich schon recht gut anlasse und daß man Hoffnung zu seiner völligen Genesung habe.
Ihr Gespräch fiel natürlich auf die Methode, Wahnsinnige zu kurieren.
Außer dem Physischen, sagte der Geistliche, das uns oft unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg
legt und worüber ich einen denkenden Arzt zu Rate ziehe, finde ich die Mittel vom Wahnsinne zu
heilen sehr einfach. Es sind eben dieselben, wodurch man gesunde Menschen hindert wahnsinnig zu
werden. Man errege ihre Selbsttätigkeit, man gewöhne sie an Ordnung, man gebe ihnen einen Begriff,
daß sie ihr Sein und Schicksal mit so vielen gemein haben, daß das außerordentlich Talent, das
größte Glück und das höchste Unglück nur kleine Abweichungen von dem gewöhnlichen sind; so wird sich
kein Wahnsinn einschleichen, und wenn er da ist, nach und nach wieder verschwinden."

"Als Geistlicher suche ich ihm (dem Harfenspieler) über seine wunderbaren Skrupel nur wenig zu sagen,
aber ein tätiges Leben führt so viele Ereignisse herbei, daß er bald fühlen muß; daß jede Art von Zweifel
nur durch Wirksamkeit gehoben werden kann.
Ich gehe sachte zu Werke, wenn ich ihm aber noch seinen Bart und seine Kutte wegnehmen kann, so habe
ich viel gewonnen, denn es bringt uns nichts näher dem Wahnsinn, als wenn wir uns vor anderen
auszeichnen, und nichts erhält so sehr den gemeinen Verstand, als im allgemeinen Sinne mit vielen Menschen
zu leben. Wie vieles ist leider nicht in unserer Erziehung und in unsern bürgerlichen Einrichtungen,
wodurch wir uns und unsre Kinder zur Tollheit vorbereiten.
Wilhelm verweilte bei diesem vernünftigen Mann einige Tage, und erfuhr die interessantesten Geschichten,
nicht allein von verrückten Menschen, sondern auch von solchen, die man für klug, ja für weise zu
halten pflegt, und deren Eigentümlichkeiten nahe an den Wahnsinn grenzen."
Dreifach belebt wird ber die Unterhaltung, als der Medikus eintrat, der den Geistlichen, seinen Freund,
öfters zu besuchen, und ihm bei seinen menschenfreundlichen Bemühungen beizustehen pflegte."

[Wilhelm, der Geistliche + der Medicus - über die Gräfin]
"In der Abwesenheit eines vornehmen Mannes verkleidet man, mit einem nicht ganz lobenswürdigen Scherze,
einen jungen Menschen (Wilhelmen) in die Hauskleidung dieses Herren.
Seine Gemahlin sollte dadurch angeführt werden, und ob man mir es gleich nur als Posse erzählt hat, so
fürchte ich doch sehr, man hatte die Absicht, die edle, liebenswürdige Dame vom rechten Wege abzuleiten.
Der Gemahl kommt unvermutet zurück, tritt in sein Zimmer, glaubt sich selbst zu sehen, und fällt von
der Zeit an in eine Melancholie, in der er die Überzeugung nährt, daß er bald sterben werde.
Er überläßt sich Personen, die ihm mit religiösen Ideen schmeicheln, und ich sehe nicht wie er
abzuhalten ist, mit seiner Gemahlin unter die Herrenhuter zu gehen, und den größten Teil
seines Vermögens, da er keine Kinder hat, seinen Verwandten zu entziehen."

[Wilhelm + der Medicus bei Aurelie]
"Den anderen Tag ließ sich der Arzt nicht lange bitten mit ihm (Wilhelm) nach der Statd zu gehen, um ihm
Gesellschaft zuleisten. um Aurelien, die ihr Freund in bedenklichen Umständen (krank aus Liebes-
kummer) zurückgelassen hatte, wo möglich Hülfe zu verschaffen.

Der Fremde ward nicht als Arzt eingeführt, und betrug sich sehr gefällig und klug. Man sprach über den
Zustand ihres Körpers und ihres Geistes, und der neue Freund erzählte manche Geschichten, wie Personen
ohngeachtet einer solchen Kränklichkeit , ein hohes Alter erreichen könnten, nichts aber sei schädlicher in
solchen Fällen, als eine vorsätzliche Erneuerung leidenschaftlicher Empfindungen.
Besonders verbarg er nicht, daß er diejenigen Personen sehr glücklich gefunden habe, die bei einer
nicht ganz herzustellenden kränklichen Anlage wahrhaft religiöse Gesinnungen bei sich zu nähren
bestimmt gewesen wären. Es sagte das auf eine sehr bescheidene Weise und gleichsam historisch,
und versprach dabei seinen neuen Freunden (Wilhelm und Aurelien) eine sehr interessante Lektüre an einem
Manuskript zu verschaffen, das er aus den Händen einer nunmehr abgeschiedenen vortrefflichen Freundin
erhalten habe. Es ist mir unendlich wert, sagte er, und ich vertraue Ihnen das Original selbst an.
Nur der Titel ist von meiner Hand, Bekenntnisse einer schönen Seele."

[Wilhelm + Serlo + Aurelie]
"Bei dieser Gelegenheit hatte er sowohl mit sich selbst als mit Serlo und Aurelien die Frage oft
abgehandelt: welch ein Unterschied sich zwischen einem edlen und vornehmen Betragen zeige, und in
wiefern jenes in diesem, dieses aber nicht in jenem enthalten zu sein brauche.
Serlo der selbst als Marinelli den Hofmann rein, ohne Karikatur vorstellte, äußerte über diesen
Punkt manchen guten Gedanken. Der vornehme Anstand, sagte er, ist schwer nachzuahmen, weil er
eigentlich negativ ist, und eine lange anhaltende Übung voraussetzt. Denn man soll nicht etwa
in seinem Benehmen etwas darstellen, das Würde anzeigt, denn leicht fällt man dadurch in ein
förmliches stolzes Wesen, man soll vielmehr nur alles vermeiden, was Unwürdig was Gemein ist,
man soll sich nie vergessen, immer auf sich und andere acht haben, sich nichts vergeben, andern
nicht zu viel, nicht zu wenig tun, durch nichts gerührt scheinen, durch nichts bewegt werden, sich
niemals übereilen, sich in jedem Momente zu fassen wissen, und so ein äußeres Gleichgewicht
erhalten, innerlich mag es stürmen wie es will.
Der edle Mensch kann sich in Momenten vernachlässigen, der vornehme nie. Dieser ist wie ein
sehr wohlgekleideter Mann, er wird sich nirgends anlehnen, und jedermann wird sich hüten an ihn zu
streichen; er unterscheidet sich vor andern, und doch darf er nicht allein stehen bleiben; denn
wie in jeder Kunst, also auch in dieser, soll zuletzt das schwerste mit Leichtigkeit ausgeführt
werden, so soll der Vornehme, ohngeachtet aller Absonderung, immer mit andern verbunden scheinen,
nirgends steif, überall gewandt sein, immer als der erste erscheinen und sich nie als ein solcher
aufdringen.
Man sieht also, daß man, um vornehm zu scheinen, wirklich vornehm sein müsse; man sieht warum
Frauen im Durchschnitt sich eher dieses Ansehen geben können als Männer, warum Hofleute und
Soldaten am schnellsten zu diesem Anstande gelangen."

[Wilhelm + Aurelie, in Todesahnung]
"Wilhelm übernahm den Brief (Aurelias Briefentwurf an Lothario), indem er sie jedoch tröstete und den
Gedanken des Todes von ihr entfernen wollte. Nein, versetzte sie, benehmen Sie mir nicht meine nächste
Hoffnung. Ich habe ihn lange erwartet und will ihn freudig in die Arme schließen.
Kurz darauf kam das vom Arzt versprochene Manuskript an. Sie ersuchte Wilhelmen ihr daraus vorzulesen,
und die Wirkung die es tat wird der Leser am besten beurteilen können, wenn er sich mit dem folgenden
Buche bekannt gemacht hat.
Das heftige und trotzige Wesen unsrer armen Freundin ward auf einmal gelinder. Sie nahm den Brief
zurück und schrieb einen andern, wie es schien in sehr sanfter Stimmung, auch forderte sie
Wilhelmen auf, ihren Freund, wenn er irgend durch die Nachricht ihres Todes betrübt werden
sollte, zu trösten, ihm zu versichern, daß sie ihm verziehen habe, und daß sie ihm alles Glück wünsche.
Von dieser Zeit an war sie sehr still und schien sich nur mit wenigen Ideen zu beschäftigen, die
sie sich aus dem Manuskript eigen zu machen suchte, woraus ihr Wilhelm von Zeit zu Zeit vorlesen
mußte."
Die Abnahme ihrer Kräfte war nicht sichtbar und unvermutet fand sie Wilhelm eines Morgens tot, als er sie
besuchen wollte.

************************************** 6. Buch *********************************

Die Schöne Seele (nach Goethe selbst: Susanne von Klettenberg)
"Während des neun monatlichen Krankenlagers [nach einem Blutsturz], das ich mit Geduld
aushielt, ward, so wie mich dünkt, der Grund zu meiner ganzen Denkart gelegt, indem
meinem Geiste die ersten Hülfsmittel gereicht wurden, sich nach seiner eigenen Art
zu entwickeln."

"Von meiner Mutter hörte ich die biblischen Geschichten gern an; der Vater unterhielt mich
mit Gegenständen der Natur."

"[...], und damit doch auch der Fürst der Welt eine Stimme in dieser Versammlung behielte,
erzählte mir die Tante Liebesgeschichten und Feenmärchen. Alles ward angenommen und
alles faßte Wurzel. Ich hatte Stunden, in denen ich mich lebhaft mit dem unsichtbaren We-
sen unterhielte, ich weiß noch einige Verse, die ich der Mutter damals in die Feder dik-
tierte."

"Ein ähnliches Abenteuer mit einem reizenden kleinen Engel, der im weißen Gewand und
goldnen Flügeln sich sehr um mich bemühte, setzte ich so lange fort, daß meine Einbil-
dungskraft sein Bild fast bis zur Erscheinung erhöhte.
Nach Jahresfrist war ich ziemlich wieder hergestellt; aber es war mir aus der Kindheit nichts
Wildes übrig geblieben. Ich konnte nicht einmal mit Puppen spielen, ich verlangte nach We-
sen, die meine Liebe erwiederten."

[Die Schöne Seele, ihr Wunsch nach dem Traumschaf]
"Nun wollte sich aber keines finden, und da alles neben mir so ganz natürlich zuging, mußte
mir nach und nach die Hoffnung auf einen so köstlichen Besitz fast vergehen.
Unterdessen tröstete ich mich, indem ich solche Bücher las, in denen wunderbare Begeben-
heiten beschrieben wurden. Unter allen war mir der christliche deutsche Herkules der lieb-
ste; die andächtige Liebesgeschichte war ganz nach meinem Sinne. Begegnete seiner Valiska
irgend etwas, und es begegneten ihr grausame Dinge, so betete er erst, eh er ihr zu Hülfe eil-
te, und die Gebete standen ausführlich im Buche. Wie wohl gefiel mir das! Mein Hang zu
dem Unsichbaren, den ich immer auf eine dunkle Weise fühle, ward dadurch nur vermehrt;
denn ein für allemal sollte Gott auch mein Vertrauter sein.
Als ich weiter heran wuchs, las ich, der Himmel weiß was alles durch einander; aber die rö-
mische Octavia behielt vor allen den Preis. Die Verfolgung der ersten Christen in einen Ro-
man gekleidet, erregten bei mir das lebhafteste Interesse.
Nun fing die Mutter an über das stete Lesen zu schmälen; der Vater nahm ihr zu Liebe mir
einen Tag die Bücher aus der Hand und gab sie mir den andern wieder. Sie war klug genug
zu bemerken, daß hier nichts auszurichten war, und drang nur darauf, daß auch die Bibel
eben so fleißig gelesen wurde. Auch dazu ließ ich mich nicht treiben, und ich las die hei-
ligen Bücher mit vielem Anteil. Dabei war meine Mutter immer sorgfältig, daß keine verfüh-
rerischen Bücher in meine Hände kämen, und ich selbst würde jede schändliche Schrift aus
der Hand geworfen haben, denn meine Prinzen und Prinzessinnen waren alle äußerst tugendhaft,
und ich wußte übrigens von der natürlichen Geschichte des menschlichen Geschlechts mehr
als ich merken ließ, und hatte es meistens aus der Bibel gelernt. Bedenkliche Stellen hielt
ich mit Worten und Dingen die mir vor Augen kamen zusammen, und brachte bei meiner Wiß-
begierde und Kombinationsgabe die Wahrheit glücklich heraus."

"Nun war das zwölfte Jahr zurückgelegt. Ich lernte französisch, tanzen und zeichnen, und er-
hielt den gewöhnlichen Religionsunterricht. Bei dem letzten wurden manche Empfindungen
und Gedanken rege, aber nichts was sich auf meinen Zustand bezogen hätte. Ich hörte gern
von Gott reden, ich war stolz darauf besser als meinesgleichen von ihm reden zu können; ich
las nun mit Eifer manche Bücher, die mich in den Stand setzten von Religion zu schwatzen,
aber nie fiel es mir ein zu denken, wie es denn mit mir stehe, ob meine Seele auch so ge-
staltet sei, ob sie einem Spiegel gleiche, von dem die ewige Sonne wieder glänzen könnte,
das hatte ich ein vor allemal schon vorausgesetzt."

[Die Schöne Seele, erste kindliche Neigungen zu einem kranken Knaben]
"Nun hatte ich denn wirklich das gewünschte Schäfchen gefunden, und diese Leidenschaft
hatte wie sonst eine Krankheit die Wirkung auf mich, daß sie mich still machte und mich
von der schwärmenden Freude zurück zog. Ich war einsam und gerührt und Gott fiel mir wie-
der ein. Er blieb mein Vertrauter, und ich weiß wohl, mit welchen Tränen ich für den Kna-
ben, der fortkränkelte, zu beten anhielt.
So viel kindisches in dem Vorgang war, so viel trug er zur Bildung meines Herzens bei."

[Die Schöne Seele + ihr Französischlehrer]
"Schauspiele und kleine Geschichten, die ich bei ihm las und übersetzte, gaben ihm oft An-
laß zu zeigen, was für ein schwacher Schutz die sogenannte Tugend gegen die Aufforderungen
eines Affekts sei. Ich widersprach nicht mehr, ärgerte mich aber immer heimlich, und seine
Anmerkungen wurden mir zur Last."

"Mein ehrlicher Mentor fuhr fort, mich auf eine bescheidene und doch treffende Weise zu war-
nen, und ich nahm es ihm immer heimlich übel. Ich war keineswegs von der Wahrheit seiner
Behauptung überzeugt, und vielleicht hatte ich auch damals Recht, vielleicht hatte er Un-
recht, die Frauen unter allen Umständen für so schwach zu halten; aber er redete zugleich
so zudringlich, daß mir einst bange wurde, er möchte Recht haben, da ich denn sehr lebhaft
zu ihm sagte: weil die Gefahr so groß und das menschliche Herz so schwach ist, so will ich
Gott bitten, daß er mich bewahre.
Die naive Antwort schien ihn zu freuen; er lobte meinen Vorsatz; aber es war bei mir nichts
weniger als ernstlich gemeint; diesmal war es nur ein leeres Wort; denn die Empfindungen für
den Unsichtbaren waren bei mir fast ganz verloschen. Der große Schwarm, mit dem ich umgeben war,
zerstreute mich und riß mich wie ein starker Strom mit fort. Es waren die leersten Jahre meines
Lebens. Tagelang von nichts zu reden, keinen gesunden Gedanken zu haben, und nur zu schwärmen,
das war meine Sache. Nicht einmal der geliebten Bücher wurde gedacht. Die Leute, mit denen
ich umgeben war, hatten keine Ahndung von Wissenschaften; es waren deutsche Hofleute und diese
Klasse hatte damals nicht die mindeste Kultur.
Ein solcher Umgang, sollte man denken, hätte mich an den Rand des Verderbens führen müssen.
Ich lebte in sinnlicher Munterkeit nur so hin, ich sammlete mich nicht, ich betete nicht,
ich dachte nicht an mich noch an Gott; aber ich seh es als eine Führung an, daß mir keiner von den
vielen schönen, reichen und wohlgekleideten Männern gefiel.
Sie waren liederlich und versteckten es nicht, das schreckte mich zurück; ihr Gespräch zierten sie
mit Zweideutigkeiten, das beleidigte mich und ich hielt mich kalt gegen sie; ihre Unart überstieg
manchmal allen Glauben, und ich erlaubte mir, grob zu sein.
Überdies hatte mir mein Alter einmal vertraulich eröffnet, daß mit den meisten dieser leidigen Bursche
nicht allein die Tugend sondern auch die Gesundheit eines Mädchens in Gefahr sei.
Nun graute mir erst vor ihnen, und ich war schon besorgt, wenn mir einer auf irgend eine Weise zu
nahe kam. Ich hütete mich vor Gläsern und Tassen wie vor dem Stuhle, von dem einer aufgestanden war.
Auf diese Weise war ich moralisch und physisch sehr isoliert, und alle die Artigkeiten, die sie mir
sagten, nahm ich stolz für schuldigen Weihrauch auf.
Unter den Fremden, die sich damals bei uns aufhielten, zeichnete sich ein junger Mann besonders aus,
den wir im Scherz Narciß nannten."

[Die schöne Seele - im Gedanken über eine zukünftige eheliche Verbindung]
"Der Gedanke des Ehestandes hat für ein halbkluges Mädchen gewiß etwas Schreckhaftes.
Durch diese heftigen Erschütterungen ward ich wieder an mich selbst erinnert. Die bunten Bilder eines
zerstreuten Lebens, die mir sonst Tag und Nacht vor den Augen schwebten, waren auf einmal
weggeblasen. Meine Seele fing wieder an sich zur regen; allein die sehr unterbrochene
Bekanntschaft mit dem unsichtbaren Freunde war so leicht nicht wieder hergestellt. Wir blieben noch
immer in ziemlicher Entfernung; es war wieder etwas, aber gegen sonst ein großer Unterschied."

[Die schöne Seele + Narciß, nach einem überstandenen Duell]
"Nachdem er sich völlig wieder erholt, besuchte er uns den ganzen Winter auf eben dem Fuß wie ehemals,
und bei allen leisen Zeichen von Empfindung und Liebe, die er mir gab, blieb alles unerörtert.
Auf diese Weise ward ich in steter Übung gehalten. Ich konnte mich keinem Menschen vertrauen und von
Gott war ich zu weit entfernt. Ich hatte diesen während vier wilder Jahre ganz vergessen, nun dachte
ich dann und wann wieder an ihn, aber die Bekanntschaft war erkaltet; es waren nur Cerimonienvisiten,
die ich ihm machte, und da ich überdies, wenn ich vor ihm erschien, immer schöne Kleider anlegte, meine
Tugend, Ehrbarkeit und Vorzüge, die ich vor andern zu haben glaubte, ihm mit Zufriedenheit vorwies;
so schien er mich in dem Schmucke gar nicht zu bemerken.
Ein Höfling würde, wenn sein Fürst, von dem er sein Glück erwartet, sich so gegen ihn betrüge, sehr
beunruhigt werden; mir aber war nicht übel dabei zu Mute, ich hatte was ich brauchte, Gesundheit und
Bequemlichkeit, wollte sich Gott mein Andenken gefallen lassen, so war es gut, wo nicht, so glaubte ich
doch meine Schuldigkeit getan zu haben.
So dachte ich freilich damals nicht von mir; aber es war doch die wahrhafte Gestalt meiner Seele. Meine
Gesinnungen zu ändern und zu reinigen waren aber auch schon Anstalten gemacht."

"Bei aller meiner Neigung zu ihm (Narciß) wußte ich, daß er der Mann nicht war, mit dem man ganz gerade
handeln konnte."

[Die schöne Seele - während der Eheversprechung mit Narciß]
"Nun war aus einem Liebhaber ein Bräutigam geworden. Die Verschiedenheit zwischen beiden zeigte sich
sehr groß. Könnte jemand die Liebhaber aller wohldenkenden Mädchen in Bräutigame verwandeln, so wäre
es eine große Wohltat für unser Geschlecht, selbst wenn auf dieses Verhältnis keine Ehe erfolgen sollte.
Die Liebe zwischen beiden Personen nimmt dadurch nicht ab, aber sie wird vernünftiger.
Unzählige kleine Torheiten, alle Koketterien und Launen fallen gleich hinweg. Äußert uns der Bräutigam,
daß wir ihm in einer Morgenhaube besser als in dem schönsten Aufsatze gefallen, dann wird einem
wohldenkenden Mädchen gewiß die Frisur gleichgültig, und es ist nichts natürlicher, als daß er auch solid
denkt und lieber sich eine Hausfrau als der Welt eine Putzdocke zu bilden wünscht.
Und so geht es durch alle Fächer durch.
Hat ein solches Mädchen dabei das Glück, daß ihr Bräutigam Verstand und Kenntnisse besitzt, so lernt sie
mehr als hohe Schulen und fremde Länder geben können. Sie nimmt nicht nur alle Bildung gern an, die er
ihr gibt, sondern sie sucht sich auch auf diesem Wege so immer weiter zu bringen.
Die Liebe macht vieles Unmögliche möglich, und endlich geht die dem weiblichen Geschlecht so nötige und
anständige Unterwerfung sogleich an; der Bräutigam herrscht nicht wie der Ehemann; er bittet nur, und seine
Geliebte sucht ihm abzumerken, was er wünscht, um es noch eher zu vollbringen als er bittet.
So hat mich die Erfahrung gelehrt, was ich nicht um vieles missen möchte. Ich war glücklich, wahrhaft
glücklich, wie man es in der Welt sein kann, das heißt, auf kurze Zeit."

"Narciß ging als Bräutigam mit mir um, und nie wagte er es, das von mir zu begehren, was uns noch
verboten war. Allein über die Grenzen der Tugend und Sittsamkeit waren wir sehr verschiedener Meinung.
Ich wollte sicher gehen und erlaubte durchaus keine Freiheit, als welche allenfalls die ganze Welt
hätte wissen dürfen. Er, an Näschereien gewöhnt, fand diese Diät sehr streng; hier setzte es nun
beständigen Widerspruch; er lobte mein Verhalten und suchte meinen Entschluß zu untergraben.
Mir fiel das ernsthaft meines alten Sprachmeisters wieder ein, und zugleich das Hülfsmittel, das
ich damals dagegen angegeben hatte.
Mit Gott war ich wieder ein wenig bekannter geworden. Er hatte mir so einen lieben Bräutigam gegeben
und dafür wußte ich ihm Dank. Die irdische Liebe selbst konzentrierte meinen Geist und setzte ihn in
Bewegung, und meine Beschäftigung mit Gott widersprach ihr nicht. Ganz natürlich klagte ich ihm,
was mich bange machte, und bemerkte nicht, daß ich selbst das, was mich bange machte, wünschte und
begehrte. Ich kam mir sehr stark vor und betete nicht etwa: bewahre mich vor Versuchung, über die
Versuchung war ich meinen Gedanken nach weit hinaus. In diesem losen Flitterschmuck eigner Tugend
erschien ich dreist vor Gott; er stieß mich nicht weg, auf die geringste Bewegung zu ihm hinterließ er
einen sanften Eindruck in meiner Seele, und dieser Eindruck bewegte mich ihn immer wieder aufzusuchen.
Die ganze Welt war mir außer Narcissen tot, nichts hatte außer ihm einen Reiz für mich."

"So war ich oft in der Gesellschaft einsam, und die völlige Einsamkeit war mir meistens lieber.
Allein mein geschäftiger Geist konnte weder schlafen noch träumen; ich fühlte und dachte und erlangte
nach und nach eine Fertigkeit, von meinen Empfindungen und Gedanken mit Gott zu reden.
Da entwickelten sich Empfindungen anderer Art in meiner Seele, die jenen nicht widersprachen. Denn
meine Liebe zu Narciß war dem ganzen Schöpfungsplane gemäß und stieß nirgend gegen meine Pflichten
an. Sie widersprachen sich nicht und waren doch unendlich verschieden.
Narciß war das einzige Bild, das mir vorschwebte, auf das sich meine ganze Liebe bezog; aber das
andere Gefühl bezog sich auf kein Bild und war unaussprechlich angenehm. Ich habe es nicht mehr und
kann es mir nicht mehr geben.
Mein Geliebter, der sonst alle meine Geheimnisse wußte, erfuhr nichts hiervon. Ich merkte bald daß er
anders dachte; er gab mir öfters Schriften, die alles, was man Zusammenhang mit dem Unsichtbaren
heißen kann, mit leichten und schweren Waffen bestritten. Ich las die Bücher, weil sie von ihm
kamen, und wußte am Ende kein Wort von allem dem, was darin gestanden hatte."

"Eine gräfliche Familie hielt sich wegen unsres geschickten Arztes eine Zeitlang hier auf."

"Ich erwähne dieser einen Bekanntschaft, weil sie in der Folge meines Lebens manchen Einfluß auf mich hatte."

"Der Augenblick war nahe, in dem sich mein ganzes Schicksal entscheiden sollte, und indes Narciß
und alle Freunde sich bei Hofe die möglichste Mühe gaben, gewisse Eindrücke, die ihm ungünstig
waren, zu vertilgen, und ihm den erwünschten Platz [Stellung am Hofe] zu verschaffen, wendete ich
mich mit meinem Anliegen zu dem unsichtbaren Freunde. Ich ward so freundlich aufgenommen, daß ich
gern wiederkam.
Ganz frei gestand ich meinen Wunsch, Narciß möchte zu der Stelle gelangen; allein meine Bitte war
nicht ungestüm, und ich forderte nicht, daß es um meines Gebets willen geschehen soll.
Die Stelle ward durch einen viel geringeren Konkurrenten besetzt."

[Die Schöne Seele - Trostsuche bei Gott wegen Narcissens Mißerfolges]
"Nun drangen die sanftesten Empfindungen, die alle Wolken des Kummers zerteilten, herbei; ich fühlte,
daß sich mit dieser Hülfe alles ausstehn ließ."

"Je sanfter diese Erfahrungen waren, desto öfters suchte ich sie zu erneuern, und ich suchte immer da
den Trost, wo ich ihn so oft gefunden hatte; allein ich fand ihn nicht immer, es war mir wie einem,
der sich an der Sonne wärmen will, und dem etwas im Wege steht, das Schatten macht. Was ist das?
fragte ich mich selbst. Ich spürte der Sache eifrig nach, und bemerkte deutlich, daß alles von der
Beschaffenheit meiner Seele abhing; wenn die nicht ganz in der geradesten Richtung zu Gott gekehrt
war, so blieb ich kalt; ich fühlte seine Rückwirkung nicht, und konnte seine Antwort nicht vernehmen.
Nun war die zweite Frage: was verhindert diese Richtung? Hier war ich in einem weiten Felde [...]."

"Ich fand sehr bald, daß die gerade Richtung meiner Seele durch törichte Zerstreuung und Beschäftigung
mit unwürdigen Sachen gestört werde; das Wie und Wo war mir bald klar genug. Nun aber wie
herauskommen? in einer Welt wo alles gleichgültig oder toll ist. Gern hätte ich die Sache an ihren
Ort gestellt sein lassen, und hätte auf geradewohl hingelebt wie andere Leute auch, die ich
ganz wohlauf sah; allein ich durfte nicht, mein Innres widersprach mir zu oft. Wollte ich mich
der Gesellschaft entziehen und meine Verhältnisse verändern, so konnte ich nicht.
Ich war nun einmal in einen Kreis hinein gesperrt; gewisse Verbindungen konnte ich nicht los
werden, und in der mir so angelegenen Sache drängten und häuften sich die Fatalitäten. Ich legte mich
oft mit Tränen zu Bette, und stand nach einer schlaflosen Nacht auch wieder so auf; ich bedurfte
einer kräftigen Unterstützung, und die verlieh mir Gott nicht, wenn ich mit der Schellenkappe
herum lief. Nun ging es an ein Abwiegen aller und jeder Handlungen; [...]."

"Was konnte das sein, das meinen Geschmack und meine Sinnesart so änderte, daß ich im zwei und
zwanzigsten Jahre, ja früher, kein Vergnügen an Dingen fand, die Leute von diesem Alter
unschuldig belustigen können? Warum waren sie mir nicht unschuldig? Ich darf wohl antworten:
eben weil sie mir nicht unschuldig waren, weil ich nicht wie andre meines gleichen
unbekannt mit meiner Seele war. Nein, ich wußte aus Erfahrungen, die ich ungesucht erlangt hatte,
daß es höhere Empfindungen gebe, die uns ein Vergnügen wahrhaftig gewährten, das man
vergebens bei Lustbarkeiten sucht, und daß in diesen höhern Freuden zugleich ein geheimer
Schatz zur Stärkung im Unglück aufbewahrt sei.
Aber die geselligen Vergnügungen und Zerstreuungen der Jugend mußten doch notwendig einen
starken Reiz für mich haben, weil es mir nicht möglich war, sie zu tun, als täte ich sie nicht.
Wie manches könnte ich jetzt mit großer Kälte tun, wenn ich nur wollte, was mich damals
irre machte, ja Meister über mich zu werden drohete. Hier konnte kein Mittelweg gehalten
werden, ich mußte entweder die reizenden Vergnügungen oder die erquickenden innerlichen
Empfindungen entbehren.
Aber schon war der Streit in meiner Seele ohne mein eigentliches Bewußtsein entschieden.
Wenn auch etwas in mir war, das sich nach den sinnlichen Freuden hinsehnte, so konnte ich
sie doch nicht mehr genießen."

[Die Schöne Seele - ihr Verhältnis zu Narciß]
"Ich erkannte auf einmal, daß es nur eine Glasglocke sei, die mich in den luftleeren Raum
sperrte; nur noch so viel Kraft sie entzwei zu schlagen, und du bist gerettet."

"Ich erklärte mit männlichem Trotz, daß ich mich bisher genug aufgeopfert habe, daß ich bereit sei,
noch ferner und bis ans Ende meines Lebens alle Widerwärtigkeiten mit ihm zu teilen, daß ich
aber für meine Handlungen völlige Freiheit verlange, daß mein Tun und Lassen von meiner
Überzeugung abhängen müsse; daß ich zwar niemals eigensinnig auf meiner Meinung beharren,
vielmehr jede Gründe gern anhören wollte, aber da es mein eigenes Glück betreffe, müsse die
Entscheidung von mir abhängen, und keine Art von Zwang würde ich dulden.
So wenig das Raisonnement des größten Arztes mich bewegen würde, eine sonst vielleicht ganz
gesunde und von vielen sehr geliebte Speise zu mir zu nehmen,
so bald mir meine Erfahrung bewiese, daß sie mir jederzeit schädlich sei, wie ich den Gebrauch
des Kaffees zum Beispiel anführen könnte, so wenig und noch viel weniger würde ich mir irgend eine
Handlung, die mich verwirrte, als für mich moralisch zuträglich aufdemonstrieren lassen."

"Ich machte meinem Herzen Luft, und fühlte den ganzen Wert meines Entschlusses.
Ich wich nicht ein Haar breit, und wem ich nicht kindlichen Respekt schuldig war, der wurde
derb abgefertigt. In meinem Hause siegte ich bald. Meine Mutter hatte von Jugend auf ähnliche
Gesinnungen, nur waren sie bei ihr nicht zur Reife gediehen; keine Not hatte sie gedrängt,
und den Mut ihre Überzeugung durchzusetzen erhöht. Sie freute sich durch mich ihre stillen
Wünsche erfüllt zu sehen. Die jüngere Schwester schien sich an mich anzuschließen; die zweite
war aufmerksam und still."

"Narciß vermied seit jener Zeit unser Haus, und nun gab mein Vater die wöchentliche Gesellschaft
auf, in der sich dieser befand.
Die Sache machte Aufsehn bei Hofe und in der Stadt. Man sprach darüber wie gewöhnlich
in solchen Fällen, an denen das Publikum heftigen Teil zu nehmen pflegt, weil es
verwöhnt ist, auf die Entschließungen schwacher Gemüter einigen Einfluß zu haben.
Ich kannte die Welt genug, und wußte, daß man oft von eben den Personen über das getadelt wird,
wozu man sich durch sie hat bereden lassen, und auch ohne das würden mir bei meiner innern
Verfassung alle solche vorübergehende Meinungen weniger als nichts gewesen sein."

[Die Schöne Seele - nach endgültiger Trennung von Narciß]
"Nun schien mir nach einem stürmischen März und April das schönste Maiwetter beschert zu sein.
Ich genoß bei einer guten Gesundheit eine unbeschreibliche Gemütsruhe; ich mochte mich
umsehen, wie ich wollte, so hatte ich bei meinem Verluste noch gewonnen. Jung und voll Empfindung
wie ich war, däuchte mir die Schöpfung tausendmal schöner als vorher, da ich Gesellschaften und
Spiele haben mußte, damit mir die Weile in dem schönen Garten nicht zu lang wurde. Da ich
mich einmal meiner Frömmigkeit nicht schämte, so hatte ich Herz meine Liebe zu Künsten und
Wissenschaft nicht zu verbergen. Ich zeichnete, malte, las und fand Menschen genug, die mich
unterstützten; statt der großen Welt, die ich verlassen hatte, oder vielmehr, die mich
verließ, bildete sich eine kleinere um mich her, die weit reicher und unterhaltender war.
Ich hatte eine Neigung zum gesellschaftlichen Leben, und ich leugne nicht, daß mir, als ich
meine ältern Bekanntschaften aufgab, vor der Einsamkeit grauete. Nun fand ich mich hinlänglich,
ja vielleicht zu sehr entschädigt. Meine Bekanntschaften wurden erst recht weitläufig, nicht nur
mit Einheimischen, deren Gesinnungen mit den meinigen übereinstimmten, sondern auch mit Fremden.
Meine Geschichte war ruchtbar geworden, und es waren viele Menschen neugierig, das Mädchen zu
sehen, die Gott mehr schätzte als ihren Bräutigam. Es war damals überhaupt eine gewisse
religiöse Stimmung in Deutschland bermerkbar. In mehreren fürstlichen und gräflichen Häusern
war eine Sorge für das Heil der Seele lebendig. Es fehlte nicht an Edelleuten die gleiche
Aufmerksamkeit hegten, und in den geringern Ständen war durchaus diese Gesinnung verbreitet.
Die gräfliche Familie, deren ich oben erwähnt, zog mich nun näher an sich. Sie hatte sich
indessen verstärkt, indem sich einige Verwandte in die Stadt gewendet hatten. Diese schätzbaren
Personen suchten meinen Umgang, wie ich den ihrigen. Sie hatten große Verwandtschaft, und ich lernte
in diesem Hause einen großen Teil der Fürsten, Grafen und Herrn des Reichs kennen. Meine
Gesinnungen waren niemanden ein Geheimnis, und man mochte sie ehren oder auch nur schonen, so
erlangte ich doch meinen Zweck und blieb ohne Anfechtung."

[Die Schöne Seele - nach Rückkehr von einer Reise an den Hof ihrer Schwester]
"Demohngeachtet mußte dieses fremde unruhige Leben auf mich stärker als ich fühlte gewirkt haben.
Denn kaum war ich zu Hause angekommen und hatte meine Eltern mit einer befriedigenden Erzählung
erfreut, so überfiel mich ein Blutsturz, der, ob er gleich nicht gefährlich war und schnell
vorüberging, doch lange Zeit eine merkliche Schwachheit hinterließ.
Hier hatte ich nun wieder eine neue Lektion aufzusagen. Ich tat es freudig; nichts fesselte mich
an die Welt, und ich war überzeugt, daß ich hier das Rechte niemals finden würde, und
so war ich in dem heitersten und ruhigsten Zustande, und ward, indem ich Verzicht aufs Leben
getan hatte, beim Leben erhalten.
Eine neue Prüfung hatte ich auszustehen, da meine Mutter mit einer drückenden Beschwerde
überfallen wurde, die sie noch fünf Jahre trug, ehe sie die Schuld der Natur bezahlte.
In dieser Zeit gab es manche Übung. Oft wenn ihr die Bangigkeit zu stark wurde, ließ sie uns
des Nachts alle vor ihr Bette rufen, um wenigstens durch unsre Gegenwart zertreut, wo nicht
gebessert zu werden. Schwerer, ja kaum zu tragen, war der Druck, als mein Vater auch elend zu
werden anfing. Von Jugend auf hatte er öfters heftige Kopfschmerzen, die aber aufs längste
nur sechs und dreißig Stunden anhielten. Nun aber wurden sie bleibend und wenn sie auf einen
hohen Grad stiegen, so zerriß der Jammer mir das Herz. Bei diesen Stürmen fühlte ich meine
körperliche Schwäche am meisten, weil sie mich hinderte, meine heiligsten liebsten Pflichten
zu erfüllen, oder mir doch ihre Ausübung äußerst beschwerlich machte.
Nun konnte ich mich prüfen, ob auf dem Wege, den ich eingeschlagen, Wahrheit oder Phantasie
sei, ob ich vielleicht nur nach andern gedacht, oder ob der Gegenstand meines Glaubens eine
Realität habe, und zu meiner größten Unterstützung fand ich immer das letzte.
Die gerade Richtung meines Herzens zu Gott, den Umgang mit den beloved ones hatte ich gesucht
und gefunden und das war was mir alles erleichterte.
Wie der Wanderer in den Schatten, so eilte meine Seele nach diesem Schutzort, wenn mich alles
von außen drückte und kam niemals leer zurück.
In der neuern Zeit haben einige Verfechter der Religion, die mehr Eifer als Gefühl für
dieselbe zu haben scheinen, ihre Mitgläubigen aufgefordert, Beispiele von wirklichen
Gebetserhörungen bekannt zu machen, wahrscheinlich, weil sie sich Brief und Siegel wünschten, um
ihren Gegnern recht diplomatisch und juristisch zu Leibe zu gehen.
Wie unbekannt muß ihnen das wahre Gefühl sein, und wie wenig echte Erfahrungen mögen
sie selbst gemacht haben.
Ich darf sagen, ich kam nie leer zurück, wenn ich unter Druck und Not Gott gesucht hatte.
Es ist unendlich viel gesagt, und doch kann und darf ich nicht mehr sagen.
So wichtig jede Erfahrung in dem kritischen Augenblicke für mich war, so matt, so unbedeutend,
unwahrscheinlich würde die Erzählung werden, wenn ich einzelne Fälle anführen wollte.
Wie glücklich war ich, daß tausend kleine Vorgänge zusammen, so gewiß als das Atemholen
Zeichen meines Lebens ist, mir bewiesen: daß ich nicht ohne Gott auf der Welt sei. Er war mir
nahe, ich war vor ihm. Das ists, was ich mit geflissentlicher Vermeidung aller theologischen
Systemsprache mit größter Wahrheit sagen kann.
Wie sehr wünschte ich, daß ich mich auch damals ganz ohne System befunden hätte; aber wer
kommt früh zu dem Glücke, sich seines eigenen Selbst, ohne fremde Formen in reinen
Zusammenhang bewußt zu sein. Mir war es Ernst mit meiner Seligkeit. Ich vertraute bescheiden
fremdem Ansehn; ich ergab mich völlig dem hallischen Bekehrungssystem, und mein ganzes Wesen
wollte auf keine Wege hineinpassen.
Nach diesem Lehrplan muß die Veränderung des Herzens mit einem tiefen Schrecken über die Sünde
anfangen; das Herz muß in dieser Not bald mehr bald weniger die verschuldete Strafe erkennen
und den Vorgeschmack der Hölle kosten, der die Lust der Sünde verbittert. Endlich muß man
eine sehr merkliche Versicherung der Gnade fühlen, die aber im Fortgange sich oft versteckt
und mit Ernst wieder gesucht werden muß.
Das alles traf bei mir weder nahe noch ferne zu. Wenn ich Gott aufrichtig suchte, so ließ er sich
finden, und hielt mir von vergangenen Dingen nichts vor. Ich sah hinten nach wohl ein, wo ich
unwürdig gewesen und wußte auch, wo ich es noch war; aber die Erkenntnis meiner Gebrechen war ohne
alle Angst. Nicht einen Augenblick ist mir eine Furcht vor der Hölle angekommen, ja die Idee eines
bösen Geistes und eines Straf- und Quälortes nach dem Tode konnte keineswegs in dem Kreise meiner
Ideen Platz finden. Ich fand die Menschen, die ohne Gott lebten, deren Herz dem Vertrauen und
der Liebe gegen den Unsichtbaren zugeschlossen war, schon so unglücklich, daß eine Hölle und
äußere Strafen mir eher für sie eine Linderung zu versprechen, als eine Schärfung der Strafe
zu drohen schienen. Ich durfte nur Menschen auf dieser Welt ansehen, die gehässigen Gefühlen
in ihrem Busen Raum geben, die sich gegen das Gute von irgend einer Art verstocken und sich
und andern das Schlechte aufdringen wollen, die lieber bei Tage die Augen zuschließen, um nur
behaupten zu können, die Sonne gebe keinen Schein von sich; wie über allen Ausdruck schienen mir
diese Menschen elend! Wer hätte eine Hölle schaffen können, um ihren Zustand zu verschlimmern.
Diese Gemütsbeschaffenheit blieb mir einen Tag wie den andern zehn Jahre lang. Sie erhielt sich
durch viele Proben, auch am schmerzhaften Sterbebette meiner geliebten Mutter.
Ich war offen genug, um bei dieser Gelegenheit meine heitere Gemütsverfassung frommen aber ganz
schulgerechten Leuten nicht zu verbergen, und ich mußte darüber manchen freundschaftlichen
Verweis erdulden. Man meinte mir eben zur rechten Zeit vorzustellen, welchen Ernst man anzuwenden
hätte, um in gesunden Tagen einen guten Grund zu legen.
An Ernst wollte ich es auch nicht fehlen lassen. Ich ließ mich für den Augenblick überzeugen
und wäre um mein Leben gern traurig und voll Schrecken gewesen. Wie verwundert war ich aber, da
es ein für allemal nicht möglich war. Wenn ich an Gott dachte, war ich heiter und vergnügt,
auch bei meiner lieben Mutter schmerzensvollen Ende graute mich vor dem Tode nicht.
Doch lernte ich vieles und ganz andre Sachen, als meine unberufenen Lehrmeister glaubten, in
diesen großen Stunden.
Nach und nach ward ich an den Einsichten so mancher hochberühmten Leute zweifelhaft und bewahrte
meine Gesinnungen in der Stille. Eine gewisse Freundin, der ich erst zu viel eingeräumt hatte,
wollte sich immer in meine Angelegenheiten mengen; auch von dieser war ich genötigt mich los zu
machen, und einst sagte ich ihr ganz entschieden: sie sollte ohne Mühe bleiben, ich brauchte ihren
Rat nicht; ich kannte meinen Gott und wollte ihn ganz allein zum Führer haben. Sie fand sich
sehr beleidigt und ich glaube, sie hat mirs nie ganz verziehen.
Dieser Entschluß, mich dem Rate und der Einwirkung meiner Freunde in geistlichen Sachen zu entziehen,
hatte die Folge, daß ich auch in äußerlichen Verhältnissen meinen eigenen Weg zu gehen Mut gewann.
Ohne den Beistand meines treuen unsichtbaren Führers hätte es mir übel geraten können, und
noch muß ich über die weise und glückliche Leitung erstaunen.
Niemand wußte eigentlich worauf es bei mir ankam, und ich wußte es selbst nicht.
Das Ding, das noch nie erklärte böse Ding, das uns von dem Wesen trennt, von dem wir das Leben
empfangen haben und aus dem alles, was Leben genannt werden soll, sich unterhalten muß, das Ding,
das man Sünde nennt, kannte ich noch gar nicht.
In dem Umgange mit dem unsichtbaren Freunde fühlte ich den süßesten Genuß aller meiner Lebenskräfte.
Das Verlangen, dieses Glück immer zu genießen, war so groß, daß ich gern unterließ, was diesen
Umgang störte, und hierin war die Erfahrung mein bester Lehrmeister.
Allein es ging mir wie den Kranken die keine Arzenei haben und sich mit der Diät zu helfen suchen.
Es tut etwas, aber lange nicht genug.
In der Einsamkeit konnte ich nicht immer bleiben, ob ich gleich in ihr das beste Mittel gegen die
mir so eigene Zerstreuung der Gedanken fand. Kam ich nachher in Getümmel, so machte es einen
desto größeren Eindruck auf mich. Mein eigentlichster Vorteil bestand darin, daß die Liebe
zur Stille herrschend war, und ich mich am Ende immer dahin wieder zurück zog."

"Von weltlichen Dingen liebte ich, mir eine gefühllose Deutlichkeit zu verschaffen. Empfindung,
Innigkeit, Neigung bewahrte ich für meinen Gott, für die meinigen und für meine Freunde.
Diese letzten waren, wenn ich so sagen darf, auf meine neue Verbindung mit Philo eifersüchtig,
[...]."

[Die Schöne Seele + Philo]
"Nachdem ich mich lange mit seiner Gemütsverfassung beschäftigt hatte, wendete sich meine
Betrachtung auf mich selbst. Der Gedanke, du bist nicht besser als er, stieg wie eine kleine
Wolke vor mir auf, breitete sich nach und nach aus, und verfinsterte meine ganze Seele.
Nun dachte ich nicht mehr bloß, du bist nicht besser als er; ich fühlte es, und fühlte es so,
daß ich es nicht noch einmal fühlen möchte: Und es war kein schneller Übergang.
Mehr als ein Jahr mußte ich empfinden, daß wenn mich eine unsichtbare Hand nicht umschränkt hätte,
ich ein Girard, ein Cartouche, ein Damiens und welches Ungeheuer man nennen will, hätte werden können:
die Anlage dazu fühlte ich deutlich in meinem Herzen. Gott welche Entdeckung!
Hatte ich nun bisher die Wirklichkeit der Sünde in mir durch die Erfahrung nicht einmal auf
das leiseste gewahr werden können; so war mir jetzt die Möglichkeit derselben in der Ahndung
aufs schrecklichste deutlich geworden, und doch kannte ich das Übel nicht, ich fürchtete
es nur; ich fühlte, daß ich schuldig sein könnte, und hatte mich nicht anzuklagen.
So tief ich überzeugt war, daß eine solche Geistesbeschaffenheit, wofür ich die meinige
anerkennen mußte, sich nicht zu einer Vereinigung mit dem höchsten Wesen, die ich nach dem
Tode hoffte, schicken könne; so wenig fürchtete ich, in eine solche Trennung zu geraten.
Bei allem Bösen, das ich in mir entdeckte, hatte ich ihn lieb und haßte was ich fühlte,
ja ich wünschte es noch ernstlicher zu hassen, und mein ganzer Wunsch war,
von dieser Krankheit, und dieser Anlage zur Krankheit erlöst zu werden, und ich war
gewiß, daß mir der große Arzt seine Hülfe nicht versagen würde.
Die einzige Frage war: was heilt diesen Schaden? Tugendübungen? An die konnte ich nicht
einmal denken.
Denn zehn Jahre hatte ich schon mehr als nur bloße Tugend geübt, und die nun erkannten
Greuel hatten dabei tief in meiner Seele verborgen gelegen; hätten sie nicht auch wie bei
David losbrechen können, als er Bathseba erblickte, und war er nicht auch ein Freund Gottes,
und war ich nicht im Innersten überzeugt, daß Gott mein Freund sei?
Sollte es also wohl eine unvermeidliche Schwäche der Menschheit sein? müssen wir uns nun
gefallen lassen, daß wir irgend einmal die Herrschaft unsrer Neigung empfinden, und bleibt
uns bei dem besten Willen nichts anders übrig als den Fall, den wir getan, zu verabscheuen, und
bei einer ähnlichen Gelegenheit wieder zu fallen?
Aus der Sittenlehre konnte ich keinen Trost schöpfen. Weder ihre Strenge, wodurch sie unsre
Neigung bemeistern will, noch ihre Gefälligkeit, mit der sie unsre Neigungen zu Tugenden
machen möchte, konnte mir genügen. Die Grundbegriffe die mir der Umgang mit dem unsichtbaren
Freunde eingeflößt hatte, hatten für mich schon einen viel entschiedenern Wert.
Indem ich einst die Lieder studierte, welche David nach jener häßlichen Katastrophe gedichtet
hatte, war mir sehr auffallend, daß er das in ihm wohnende Böse schon in dem Stoff,
woraus er geworden war, erblickte; daß er aber entsündigt sein wollte, und daß er auf das
dringendste um ein reines Herz flehte.
Wie nun aber dazu zu gelangen? Die Antwort aus den symbolischen Büchern wußte ich wohl; es
war mir auch eine Bibelwahrheit, daß das Blut Jesu Christi uns von allen Sünden reinige.
Nun aber bemerkte ich erst, daß ich diesen so oft wiederholten Spruch noch nie verstanden
hatte. Die Fragen: was heißt das? Wie soll das zugehen? arbeiteten Tag und Nacht in mir sich
durch. Endlich glaubte ich bei einem Schimmer zu sehen, daß das, was ich suchte, in der
Menschwerdung des ewigen Wortes, durch das alles und auch wir erschaffen sind, zu suchen sei.
Daß der Uranfängliche sich in die Tiefen, in denen wir stecken, die er durchschaut und umfaßt,
einstmal als Bewohner begeben habe, durch unser Verhältnis von Stufe zu Stufe von der
Empfängnis und Geburt bis zu dem Grabe durchgegangen sei, daß er durch diese sonderbaren Umweg
wieder zu den lichten Höhen aufgestiegen, wo wir auch wohnen sollten, um glücklich zu
sein: das ward mir, wie in einer dämmernden Ferne, offenbart.
O warum müssen wir, um von solchen Dingen zu reden, Bilder gebrauchen, die nur äußere
Zustände anzeigen? Wo ist vor ihm etwas Hohes oder Tiefes, etwas Dunkles oder Helles;
wir nur haben ein Oben und Unten, einen Tag und eine Nacht. Und eben darum ist er uns ähnlich
geworden, weil wir sonst keinen Teil an ihm haben könnten.
Wie können wir aber an dieser unschätzbaren Wohltat Teil nehmen? Durch den Glauben, antwortet
uns die Schrift. Was ist denn Glauben? Die Erzählung einer Begebenheit für wahr zu halten,
was kann mir das helfen? ich muß mir ihre Wirkungen, ihre Folgen zueignen können.
Dieser zueignende Glaube muß ein eigener, dem natürlichen Menschen ungewöhnlicher Zustand
des Gemüts sein.
Nun, Allmächtiger! so schenke mir Glauben, flehte ich einst in dem größten Druck des Herzens.
Ich lehnte mich auf einen kleinen Tisch, an dem ich saß, und verbarg mein beträntes Gesicht
in meine Händen. Hier war ich in der Lage, in der man sein muß, wenn Gott auf unser Gebet
achten soll, und in der man selten ist.
Ja wer nur schildern könnte, was ich da fühlte. Ein Zug brachte meine Seele nach dem Kreuze
hin, an dem Jesus einst erblaßte; ein Zug war es, ich kann es nicht anders nennen; demjenigen
völlig gleich, wodurch unsre Seele zu einem abwesenden Geliebten geführt wird, ein Zunahen,
das vermutlich viel wesentlicher und wahrhafter ist, als wir nicht vermuten.
So nahte meine Seele dem Menschgewordenen und am Kreuz gestorbenen, und in dem Augenblicke
wußte ich, was Glauben war.
Das ist Glauben, sagte ich, und sprang wie halb erschreckt in die Höhe. Ich suchte nun
meiner Empfindung, meines Anschauens gewiß zu werden, und im Kurzen war ich überzeugt,
daß mein Geist eine Fähigkeit sich aufzuschwingen erhalten habe, die ihm ganz neu war.
Bei diesen Empfindungen verlassen uns die Worte. Ich konnte sie ganz deutlich von aller
Phantasie unterscheiden; sie waren ganz ohne Phantasie, ohne Bild und gaben doch eben
die Gewißheit eines Gegenstandes, auf den sie sich bezogen, als die Einbildungskraft,
indem sie uns die Züge eines abwesenden Geliebten vormalt.
Als das erste Entzücken vorüber war, bemerkte ich, daß mir dieser Zustand der Seele schon
vorher bekannt gewesen; allein ich hatte ihn nie in dieser Stärke empfunden.
Ich hatte ihn niemals fest halten, nie zu eigen behalten können.
Ich glaube überhaupt, daß jede Menschenseele ein und das anderemal davon etwas empfunden hat.
Ohne Zweifel ist Er das, was einem jeden lehrt, daß ein Gott ist."

"Mit dieser mich ehemals von Zeit zur Zeit nur anwandelnden Kraft war ich bisher sehr
zufrieden gewesen, und wäre mir nicht durch sonderbare Schickung seit Jahr und Tag die
unerwartete Plage wiederfahren, wäre nicht dabei mein Können und Vermögen bei mir selbst
außer allen Kredit gekommen, so wäre ich vielleicht mit jenem Zustande immer zufrieden geblieben.
Nun hatte ich aber seit jenem großen Augenblicke Flügel bekommen. Ich konnte mich
über das was mich vorher bedrohete aufschwingen, wie ein Vogel singend über den schnellsten
Strom ohne Mühe fliegt, vor welchem das Hündchen ängstlich bellend stehen bleibt.
Meine Freude war unbeschreiblich, und ob ich gleich niemand etwas davon entdeckte, so
merkten doch die meinigen eine ungewöhnliche Heiterkeit an mir, ohne begreifen zu können,
was die Ursache meines Vergnügens wäre.
Hätte ich doch immer geschwiegen, und die reine Stimmung in meiner Seele zu erhalten gesucht!
Hätte ich mich doch nicht durch Umstände verleiten lassen, mit meinem Geheimnisse hervor
zu treten; so hätte ich mir abermals einen großen Umweg ersparen können.
Da in meinem vorhergehenden zehnjährigen Christenlauf diese notwendige Kraft nicht in meiner
Seele war, so hatte ich mich in dem Fall anderer redlichen Leute auch befunden; ich hatte
mir dadurch geholfen, daß ich die Phantasie immer mit Bildern erfüllte, die einen Bezug
auf Gott hatten, und auch dieses ist schon wahrhaft nützlich; denn schädliche Bilder und ihre
bösen Folgen werden dadurch abgehalten. Sodann ergreift unsre Seele oft ein und das andere von
den geistigen Bildern, und schwingt sich ein wenig damit in die Höhe, wie ein junger Vogel von
einem Zweige auf den andern flattert. So lange man nichts besseres hat, ist doch diese Übung
nicht ganz zu verwerfen.
Auf Gott zielende Bilder und Eindrücke verschaffen uns kirchliche Anstalten, Glocken, Orgeln
und Gesänge, und besonders die Vorträge unserer Lehrer. Auf sie war ich ganz unsäglich
begierig; keine Witterung, keine körperliche Schwäche hielt mich ab, die Kirchen zu besuchen,
und nur das sonntägige Geläut konnte mir auf meinem Krankenbette einige Ungeduld verursachen.
Unsern Oberhofprediger, der ein trefflicher Mann war, hörte ich mit großer Neigung, auch seine
Kollegen waren mir wert, und ich wußte die goldnen Äpfel des göttlichen Wortes auch aus
irdenen Schalen unter gemeinem Obste heraus zu finden. Den öffentlichen Übungen wurden alle
möglich Privaterbauungen, wie man sie nennt, hinzugefügt und auch dadurch nur Phantasie und
feinere Sinnlichkeit genährt. Ich war so an diesen Gang gewöhnt, ich respektierte ihn so sehr,
daß mir auch jetzt nichts höheres einfiel. Denn meine Seele hat nur Fühlhörner und keine Augen;
sie tastet nur und sieht nicht; ach! daß sie Augen bekäme und schauen dürfte!
Auch jetzt ging ich voll Verlangen in die Predigten; aber ach! wie geschahe mir.
Ich fand das nicht mehr was ich sonst gefunden.
Diese Prediger stumpften sich die Zähne an den Schalen ab, indessen ich den Kern genoß.
Ich mußte ihrer nun bald müde werden; aber mich an den allein zu halten, den ich doch zu finden
wußte, dazu war ich zu verwöhnt. Bilder wollte ich haben, äußere Eindrücke bedurfte ich,
und glaubte ein reines geistiges Bedürfnis zu fühlen.
Philos Eltern hatten mit der Herrnhutischen Gemeinde in Verbindung gestanden; in seiner Bibliothek
fanden sich noch viele Schriften des Grafen. Er hatte mir einigemal sehr klar und billig
darüber gesprochen, und mich ersucht, einige dieser Schriften durchzublättern, und wäre es auch
nur, um ein psychologisches Phänomen kennen zu lernen. Ich hielt den Grafen für einen gar zu argen
Ketzer; so ließ ich auch das Ebersdorfer Gesangbuch bei mir liegen, das mir der Freund in
ähnlicher Absicht gleichsam aufgedrungen hatte.
In dem völligen Mangel aller äußeren Ermunterungsmittel ergriff ich wie von ohngefähr das
gedachte Gesangbuch, und fand zu meinem Erstaunen wirklich Lieder darin, die freilich unter sehr
seltsamen Formen, auf dasjenige zu deuten schienen, was ich fühlte; die Originalität und Naivität
der Ausdrücke zog mich an. Eigene Empfindungen schienen auf eine eigene Weise ausgedruckt;
keine Schulterminologie erinnerte an etwas Steifes oder Gemeines. Ich ward überzeugt, die
Leute fühlten was ich fühlte, und ich fand mich nun sehr glücklich, ein solches Verschen ins
Gedächtnis zu fassen und mich einige Tage damit zu tragen.
Seit jenem Augenblick, in welchem mir das Wahre geschenkt worden war, verflossen auf diese Weise
ohngefähr drei Monate. Endlich faßte ich den Entschluß, meinem Freunde Philo alles zu entdecken, und
ihn um die Mitteilung jener Schriften zu bitten, auf die ich nun über die Maßen neugierig
geworden war. Ich tat es auch wirklich, ohnerachtet mir ein Etwas im Herzen ernstlich davon abriet.
Ich erzählte Philo die ganze Geschichte umständlich, und da er selbst darin eine Hauptperson
war, da meine Erzählung auch für ihn die strengste Bußpredigt enthielt, war er äußerst
betroffen und gerührt. Er zerfloß in Tränen. Ich freute mich, und glaubte, auch bei ihm sei eine
völlige Sinnesänderung bewirkt worden.
Er versorgte mich mit allen Schriften, die ich nur verlangte, und nun hatte ich überflüssige
Nahrung für meine Einbildungskraft. Ich machte große Fortschritte in der Zinzendorfischen Art
zu denken und zu sprechen. Man glaube nicht, daß ich die Art und Weise des Grafen nicht auch
gegenwärtig zu schätzen wisse, ich lasse ihm gern Gerechtigkeit wiederfahren; er ist kein
leerer Phantast; er spricht von großen Wahrheiten meist mit einem kühnen Fluge der
Einbildungskraft, und die ihn geschmäht haben, wußten seine Eigenschaften weder zu schätzen,
noch zu unterscheiden.
Ich gewann ihn unbeschreiblich lieb. Wäre ich mein eigner Herr gewesen, so hätte ich gewiß
Vaterland und Freunde verlassen, wäre zu ihm gezogen; unfehlbar hätten wir uns verstanden und
schwerlich hätten wir uns lange vertragen.
Dank sei meinem Genius, der mich damals in meiner häuslichen Verfassung so eingschränkt hielt!
Es war schon eine große Reise, wenn ich nur in den Hausgarten gehen konnte.
Die Pflege meines alten und schwächlichen Vaters machte mir Arbeit genug, und in den Ergötzungsstunden
war die edle Phantasie mein Zeitvertreib.
Der einzige Mensch, den ich sah, war Philo, den mein Vater sehr liebte, dessen offnes Verhältnis
zu mir aber durch die letzte Erklärung einigermaßen gelitten hatte. Bei ihm war die Rührung nicht
tief gedrungen, und da ihm einige Versuche, in meiner Sprache zu reden, nicht gelungen waren,
so vermied er diese Materie um so leichter, als er durch seine ausgebreiteten Kenntnisse
immer neue Gegenstände des Gesprächs herbei zu führen wußte.
Ich war also eine hernnhutische Schwester auf meine eigene Hand, und hatte diese neue Wendung
meines Gemüts und meiner Neigungen besonders vor dem Oberhofprediger zu verbergen, den ich
als meinen Beichtvater zu schätzen sehr Ursache hatte, und dessen große Verdienste auch gegenwärtig
durch seine äußerste Abneigung gegen die herrnhutische Gemeinde in meinen Augen nicht geschmälert
wurden. Leider sollte dieser würdige Mann an mir und andern viele Betrübnis erleben!
Er hatte vor mehreren Jahren auswärts einen Kavalier als einen redlichen frommen Mann kennen
lernen, und war mit ihm, als einem der Gott ernstlich suchte, in einem ununterbrochenen Briefwechsel
geblieben. Wie schmerzhaft war es daher für seinen geistlichen Führer, als dieser Kavalier
sich in der Folge mit der herrnhutischen Gemeinde einließ, und sich lange unter den Brüdern
aufhielt; daher jener eifrige Mann, als sein Freund sich mit den Brüdern wieder entzweite,
in seiner Nähe zu wohnen sich entschloß, und sich seiner Leitung aufs neue völlig zu überlassen
schien.
Nun wurde der Neuangekommene gleichsam im Triumph allen besonders geliebten Schäfchen des Oberhirten
vorgestellt. Nur in unser Haus ward er nicht eingeführt, weil mein Vater niemand mehr zu sehen pflegte.
Der Kavalier fand große Approbation; er hatte das Gesittete des Hofs und das Einnehmende der
Gemeinde, dabei viel schöne natürliche Eigenschaften, und ward bald der große Heilige für alle,
die ihn kennen lernten, worüber sich sein geistlicher Gönner äußerst freute.
Leider war jener nur über äußere Umstände mit der Gemeinde brouilliert, und im Herzen noch ganz
Herrnhuter. Er hing wirklich an der Realität der Sache, allein auch ihm war das Tändelwerk,
das der Graf darum gehängt hatte, höchst angemessen.
Er war an jene Vorstellungs- und Redensarten nun einmal gewöhnt, und wenn er sich nunmehr vor seinem
alten Freunde sorgfältig verbergen mußte, so war es ihm desto notwendiger, so bald er ein Häufchen
vertrauter Personen um sich erblickte, mit seinen Verschen, Litaneien und Bilderchen hervor
zu rücken, und er fand, wie man denken kann, großen Beifall.
Ich wußte von der ganzen Sache nichts, und tändelte auf meine eigene Art fort. Lange Zeit blieben
wir uns unbekannt.
Einst besuchte ich, in einer freien Stunde eine kranke Freundin. Ich traf mehrere Bekannte dort an,
und merkte bald, daß ich sie in einer Unterredung gestört hatte. Ich ließ mir nichts merken;
erblickte aber, zu meiner großen Verwunderung, an der Wand einige herrnhutische Bilder, in
zierlichen Rahmen. Ich faßte geschwinde, was in der Zeit, da ich nicht im Hause gewesen, vorgegangen
sein mochte, und bewillkommte diese neue Erscheinung mit einigen angemessenen Versen.
Man denke sich das Erstaunen meiner Freundinnen. Wir erklärten uns, und waren auf der Stelle einig
und vertraut.
Ich suchte nun öfter Gelegenheit auszugehn. Leider fand ich sie nur alle drei bis vier Wochen,
ward mit dem adelichen Apostel und nach und nach mit der ganzen heimlichen Gemeinde bekannt.
Ich besuchte, wenn ich konnte, ihre Versammlungen, und bei meinem geselligen Sinn war es mir
unendlich angenehm, das von andern zu vernehmen und andern mitzuteilen, was ich nur bisher
in und mit mir selbst ausgearbeitet hatte.
Ich war nicht so eingenommen, daß ich nicht bemerkt hätte, wie nur wenige den Sinn der zarten Worte
und Ausdrücke fühlten, und wie sie dadurch auch nicht mehr, als ehemals durch die kirchlich
symbolische Sprache, gefördert waren. Demohngeachtet ging ich mit ihnen fort, und ließ mich nicht
irre machen. Ich dachte, daß ich nicht zur Untersuchung und Herzensprüfung berufen sei.
War ich doch auch durch manche unschuldige Übung zum Besseren vorbereitet worden.
Ich nahm meinen Teil hinweg, drang, wo ich zur Rede kam, auf den Sinn, der bei so zarten Gegenständen
eher durch Worte versteckt als angedeutet wird, und ließ übrigens mit stiller Verträglichkeit
einen jeden nach seiner Art gewähren.
Auf diese ruhigen Zeiten des heimlichen gesellschaftlichen Genusses, folgten bald die Stürme öffentlicher
Streitigkeiten und Widerwärtigkeiten, die am Hofe und in der Stadt große Bewegungen erregten, und
ich möchte beinahe sagen, manches Skandal verursachten. Der Zeitpunkt war gekommen, in welchem unser
Oberhofprediger, dieser große Widersacher der herrnhutischen Gemeinde, zu seiner gesegneten
Demütigung entdecken sollte, daß seine besten und sonst anhänglichsten Zuhörer sich sämtlich
auf die Seite der Gemeinde neigten."

[Die Schöne Seele - im Schloß ihres Oheims]
"So angenehm uns der Anblick eines wohlgestalteten Menschen ist, so angenehm ist uns eine ganze
Einrichtung, aus der uns die Gegenwart eines verständigen, vernünftigen Wesens fühlbar wird.
Schon in ein reinliches Haus zu kommen, ist eine Freude, wenn es auch sonst geschmacklos
gebauet und verziert ist; denn es zeigt uns die Gegenwart wenigstens von Einer Seite gebildeter
Menschen. Wie doppelt angenehm ist es uns also, wenn aus einer menschlichen Wohnung uns der Geist
einer höhern, obgleich auch nur sinnlichen, Kultur entgegen spricht!"

[Die Schöne Seele + ihre Oheim]
"Wenn wir uns, sagte er einmal, als möglich denken können, daß der Schöpfer der Welt selbst die
Gestalt seiner Kreatur angenommen, und auf ihre Art und Weise sich eine Zeitlang auf der Welt
befunden habe; so muß uns dieses Geschöpf schon unendlich vollkommen erscheinen, weil sich der
Schöpfer so innig damit vereinigen konnte. Es muß also in dem Begriff des Menschen kein
Widerspruch mit dem Begriff der Gottheit liegen, und wenn wir auch oft eine gewisse Unähnlichkeit
und Entfernung von ihr empfinden, so ist es doch um desto mehr unsere Schuldigkeit, nicht immer
wie der Advokat des bösen Geistes nur auf die Blößen und Schwächen unserer Natur zu sehen,
sondern eher alle Vollkommenheiten aufzusuchen, wodurch wir die Ansprüche unsrer Gottähnlichkeit
bestätigen können.
Ich lächelte und versetzte: beschämen Sie mich nicht zu sehr, lieber Oheim, durch die Gefälligkeit in
meiner Sprache zu reden! Das was Sie mir zu sagen haben, ist für mich von so großer Wichtigkeit,
daß ich es in Ihrer eigensten Sprache zu hören wünschte, und ich will alsdann, was ich mir
davon nicht ganz zueignen kann, schon zu übersetzen suchen.
Ich werde, sagte er darauf, auch auf meine eigenste Weise, ohne Veränderung des Tons fortfahren
können. Des Menschen größtes Verdienst bleibt wohl, wenn er die Umstände so viel als möglich
bestimmt und sich so wenig als möglich von ihnen bestimmen läßt. Das ganze Weltwesen liegt vor
uns, wie ein großer Steinbruch vor dem Baumeister, der nur dann den Namen verdient, wenn er aus
diesen zufälligen Naturmassen, ein in seinem Geiste entsprungenes Urbild mit der größten Ökonomie,
Zweckmäßigkeit und Festigkeit zusammen stellt. Alles außer uns ist nur Element, ja ich darf wohl
sagen, auch alles an uns; aber tief in uns liegt diese schöpferische Kraft, die das zu
erschaffen vermag, was sein soll, und uns nicht ruhen und rasten läßt, bis wir es außer uns oder
an uns auf eine oder die andere Weise dargestellt haben. Sie, liebe Nichte, haben vielleicht
das beste Teil erwählt; Sie haben Ihr sittliches Wesen, Ihre tiefe liebevolle Natur mit sich
selbst und mit dem höchsten Wesen übereinstimmend zu machen gesucht, indes wir andere wohl auch
nicht zu tadeln sind, wenn wir den sinnlichen Menschen in seinem Umfang zu kennen und tätig
in Einheit zu bringen suchen."

"Glauben Sie nicht, sagte der Oheim zu mir, daß ich Ihnen schmeichle, wenn ich Ihre Art zu denken
und zu handeln lobe. Ich verehre den Menschen, der deutilch weiß, was er will, unablässig
vorschreitet, die Mittel zu seinem Zwecke kennt und sie zu ergreifen und zu brauchen weiß;
in wie fern sein Zweck groß oder klein sei, Lob oder Tadel verdiene, das kommt bei mir erst
nachher in Betrachtung. Glauben Sie mir, meine Liebe, der größte Teil des Unheils und dessen was man
bös in der Welt nennt, entsteht bloß, weil die Menschen zu nachlässig sind ihre Zwecke recht kennen
zu lernen, und wenn sie solche kennen, ernsthaft darauf los zu arbeiten. Sie kommen mir vor wie
Leute, die den Begriff haben, es könne und müsse ein Turm gebaut werden, und die doch an den Grund
nicht mehr Steine und Arbeit verwenden, als man allenfalls einer Hütte unterschlüge.
Hätten Sie meine Freundin, deren höchstes Bedürfnis war, mit ihrer innern sittlichen Natur
ins reine zu kommen, anstatt der großen und kühnen Aufopferungen, sich zwischen Ihrer
Familie, einem Bräutigam, vielleicht einem Gemahl nur so hin beholfen, Sie würden,
in einem ewigen Widerspruch mit sich selbst, niemals einen zufriedenen Augenblick genossen haben.
Sie brauchen, versetzte ich hier, das Wort Aufopferung, und ich habe manchmal gedacht, wie wir
einer höhern Absicht, gleichsam wie einer Gottheit, das geringere zum Opfer darbringen,
ob es uns schon am Herzen liegt, wie man ein geliebtes Schaf für die Gesundheit eines verehrten
Vaters gern und willig zum Altar führte.
Was es auch sei, versetzte er, der Verstand oder die Empfindung, das uns eins für das andere
hingeben, eins vor dem andern wählen heißt, so ist die Entschiedenheit und Folge, nach meiner
Meinung, das verehrungswürdigste am Menschen. Man kann die Ware und das Geld nicht zugleich haben!
und der ist eben so übel daran, dem es immer nach der Ware gelüstet, ohne daß er das Herz hat das
Geld hinzugeben, als der, den der Kauf reut, wenn er die Ware in Händen hat.
Aber ich bin weit entfernt, die Menschen deshalb zu tadeln, denn sie sind eigentlich nicht Schuld,
sondern die verwickelte Lage, in der sie sich befinden, und in der sie sich nicht zu regieren
wissen. So werden Sie, zum Beispiel, im Durchschnitt, weniger üble Wirte auf dem Lande als in den
Städten finden, und wieder in kleinen Städten weniger als in großen, und warum?
Der Mensch ist zu einer beschränkten Lage geboren, einfache, nahe, bestimmte Zwecke, vermag er
einzusehen, und er gewöhnt sich die Mittel zu benutzen, die ihm gleich zur Hand sind; sobald er aber
ins weite kommt, weiß er weder was er will, noch was er soll, und es ist ganz einerlei, ob er durch
die Menge der Gegenstände zerstreut, oder ob er durch die Höhe und Würde derselben außer sich
gesetzt werde.
Es ist immer sein Unglück, wenn er veranlaßt wird, nach etwas zu streben, mit dem er sich durch
eine regelmäßige Selbsttätigkeit nicht verbinden kann.
Fürwahr, fuhr er fort, ohne Ernst ist in der Welt nichts möglich, und unter denen, die wir gebildete
Menschen nennen, ist eigentlich wenig Ernst zu finden, sie gehen, ich möchte sagen, gegen Arbeiten
und Geschäfte, gegen Künste, ja gegen Vergnügungen nur mit einer Art von Selbstverteidigung zu Werke,
man lebt wie man ein Pack Zeitungen liest, nur damit man sie los werde, und es fällt mir dabei jener
junge Engländer in Rom ein, der Abends, in einer Gesellschaft, sehr zufrieden erzählte: daß er doch
heute sechs Kirchen und zwei Galerien bei Seite gebracht habe.
Man will mancherlei wissen und kennen, und gerade das was einen am wenigsten angeht, und man bemerkt
nicht, daß kein Hunger dadurch gestillt wird, wenn man nach der Luft schnappt.
Wenn ich einen Menschen kennen lerne, frage ich sogleich, womit beschäftigt er sich? und wie und in
welcher Folge? und mit der Beantwortung der Frage ist auch mein Interesse an ihm auf Zeitlebens
entschieden.
Sie sind, lieber Oheim, versetzte ich darauf, vielleicht zu strenge und entziehen manchem guten
Menschen, dem Sie nützlich sein könnten, ihre hülfreiche Hand.
Ist es dem zu verdenken, antwortete er, der so lange vergebens an ihnen und um sie gearbeitet hat.
Wie sehr leidet man nicht in der Jugend von Menschen die uns zu einer angenehmen Lustpartie
einzuladen glauben, wenn sie uns in die Gesellschaft der Danaiden, oder des Sisyphus zu bringen
versprechen. Gott sei Dank, ich habe mich von ihnen los gemacht, und wenn einer unglücklicher Weise
in meinen Kreis kommt, suche ich ihn auf die höflichste Art hinaus zu komplimentieren;
denn grade von diesen Leuten hört man die bittersten Klagen über den verworrenen Lauf der Welthändel,
über die Seichtigkeit der Wissenschaften, über den Leichtsinn der Künstler, über die
Leerheit der Dichter und was alles noch mehr. Sie bedenken am wenigsten, daß eben sie selbst und
die Menge, die ihnen gleich ist, grade das Buch nicht lesen würden, das geschrieben wäre wie sie es
fordern, daß ihnen die echte Dichtung fremd sei, und daß selbst ein gutes Kunstwerk nur durch
Vorurteil ihren Beifall erlangen könne."

[Die Schöne Seele + ihr Oheim, vor Wandgemälden]
"[...], dann sagte er: gönnen Sie nun auch dem Genius, der diese Werke hervorgebracht hat, einige
Aufmerksamkeit.
Gute Gemüter sehen so gerne den Finger Gottes in der Natur, warum sollte man nicht auch der Hand seines
Nachahmers einige Betrachtung schenken? Er machte mich sodann auf unscheinbare Bilder aufmerksam,
und suchte mir begreiflich zu machen, daß eigentlich die Geschichte der Kunst uns bloß den Begriff
von dem Wert und der Würde eines Kunstwerks geben könne, daß man erst die beschwerlichen Stufen des
Mechanismus und des Handwerks, an denen der fähige Mensch sich Jahrhunderte lang hinauf arbeitet,
kennen müsse, um zu begreifen wie es möglich sei, daß das Genie auf dem Gipfel, bei dessen bloßen
Anblick uns schwindelt, sich frei und fröhlich bewege.
Er hatte in diesem Sinne eine schöne Reihe zusammen gebracht, und ich konnte mich nicht enthalten
als er mir sie auslegte, die moralische Bildung hier wie im Gleichnisse vor mir zu sehen.
Als ich ihm meine Gedanken äußerte, versetzte er: Sie haben vollkommen Recht, und wir sehen daraus:
daß man nicht wohl tut, der sittlichen Bildung einsam, in sich selbst verschlossen, nachzuhängen;
vielmehr wird man finden daß derjenige, dessen Geist nach einer moralischen Kultur strebt, alle
Ursache hat, seine feinere Sinnlichkeit zugleich mit auszubilden, damit er nicht in Gefahr komme,
von seiner moralischen Höhe herab zu gleiten, indem er sich den Lockungen einer regellosen Phantasie
übergibt, und sich in Gefahr setzt, seine edlere Natur durch Vergnügen an geschmacklosen
Tändeleien, wo nicht an was schlimmerem herab zu würdigen."

"Nun lernte ich auch die weltlichen Dinge mit Ernst angreifen, und das ausüben, was ich sonst
nur gesungen hatte."

[Die Schöne Seele + ihr Vater]
"Mit einer Heiterkeit, die ihm sonst nicht eigen war, und die bis zu einer lebhaften Freude
stieg, sagte er zu mir: wo ist die Todesfurcht hingekommen, die ich sonst noch wohl empfand? sollte
ich zu sterben scheuen? ich habe einen gnädigen Gott, das Grab erweckt mir kein Grauen, ich habe ein
ewiges Leben."
Mir die Umstände seines Todes zurück zu rufen, der bald darauf erfolgte, ist in meiner Einsamkeit
eine meiner angenehmsten Unterhaltungen, und die sichtbaren Wirkungen einer höheren Kraft dabei
wird mir niemand wegräsonieren.
Der Tod meines lieben Vaters veränderte meine bisherige Lebensart. Aus dem strengsten Gehorsam,
aus der größten Einschränkung kam ich in die größte Freiheit, und ich genoß ihrer wie eine Speise
die man lange entbehrt hat.
Sonst war ich selten zwei Stunden außer Haus, nun verlebte ich kaum Einen Tag in meinem Zimmer.
Meine Freunde, bei denen ich sonst nur abgerissene Besuche machen konnte, wollten sich meines
anhaltenden Umgangs, so wie ich mich des ihrigen, erfreuen, öfters wurde ich zu Tische geladen,
Spazierfahrten und kleine Lustreisen kamen hinzu, und ich blieb nirgends zurück.
Als aber der Zirkel durchlaufen war, so sahe ich, daß das unschätzbare Glück der Freiheit nicht darin
besteht, daß man alles tut, was man tun mag, und wozu uns die Umstände einladen, sondern, daß man das
ohne Hindernis und Rückhalt, auf dem graden Wege, tun kann, was man für recht und schicklich hält,
und ich war alt genug, in diesem Falle, ohne Lehrgeld zu der schönen Überzeugung zu gelangen.
Was ich mir nicht versagen konnte, war, sobald als nur möglich, den Umgang mit den Gliedern der
Herrnhuthischen Gemeine fortzusetzen, und fester zu knüpfen, und ich eilte eine ihrer nächsten
Einrichtungen zu besuchen: aber auch da fand ich keineswegs, was ich mir vorgestellt hatte.
Ich war ehrlich genug meine Meinung merken zu lassen, und man suchte mir hinwieder beizubringen: diese
Verfassung sei gar nichts gegen eine ordentlich eingerichtete Gemeine. Ich konnte mir das gefallen
lassen, doch hätte nach meiner Überzeugung der wahre Geist, aus einer kleinen so gut, als aus
einer großen Anstalt, hervorblicken sollen.
Einer ihrer Bischöfe, der gegenwärtig war, ein unmittelbarer Schüler des Grafen, beschäftigte sich
viel mit mir; er sprach vollkommen Englisch; und weil ich es ein wenig verstand, meinte er,
es sei ein Wink, daß wir zusammen gehörten; ich meinte es aber ganz und gar nicht, sein Umgang
konnte mir nicht im geringsten gefallen.
Er war ein Messerschmidt, ein geborner Mähre, seine Art zu denken, konnte das handwerksmäßíge nicht
verleugnen. Besser verstand ich mich mit dem Herrn von L*, der Major in französischen Diensten
gewesen war; aber zu der Untertänigkeit, die er gegen seinen Vorgesetzten bezeigte, fühlte ich
mich niemals fähig; ja es war mir als wenn man mir eine Ohrfeige gäbe, wenn ich die Majorin
und andere, mehr oder weniger angesehene, Frauen dem Bischof die Hand küssen sah."

"Ich hielt mich bei meiner schwachen Gesundheit still, und bei meiner ruhigen Lebensart ziemlich
im Gleichgewicht, ich fürchtete den Tod nicht, ja ich wünschte zu sterben, aber ich fühlte in der
Stille, daß mir Gott Zeit gebe, meine Seele zu untersuchen und ihm immer näher zu kommen.
In den vielen schlaflosen Nächten habe ich besonders etwas empfunden, das ich eben nicht deutlich
beschreiben kann.
Es war, als wenn meine Seele ohne Gesellschaft des Körpers dächte, sie sah den Körper selbst als ein,
ihr fremdes, Wesen an, wie man etwa ein Kleid ansieht. Sie stellte sich mit einer außerordentlichen
Lebhaftigkeit die vergangenen Zeiten und Begebenheiten vor, und fühlte daraus, was folgen werde.
Alle diese Zeiten sind dahin, was folgt wird auch dahin gehen; der Körper wird wie ein Kleid zer-
reißen, aber Ich, das wohlbekannte Ich, Ich bin.
Diesem großen, erhabenen und tröstlichen Gefühle so wenig als nur möglich nachzuhängen, lehrte mich
ein edler Freund, der sich mir immer näher verband; es war der Arzt, den ich in dem Hause meines
Oheims hatte kennen lernen, und der sich von der Verfassung meines Körpers und meines Geistes sehr
gut unterrichtet hatte; er zeigte mir wie sehr diese Empfindungen, wenn wir sie, unabhängig von
äußern Gegenständen, in uns nähren, uns gewissermaßen aushöhlen und den Grund unseres Daseins
untergraben. Tätig zu sein, sagte er, ist des Menschen erste Bestimmung, und alle Zwischenzeiten,
in denen er auszuruhen genötiget ist, sollte er anwenden, eine deutliche Erkenntnis der äußerlichen
Dinge zu erlangen, die ihm in der Folge abermals seine Tätigkeit erleichtert.
Da der Freund meine Gewohnheit kannte, meinen eignen Körper als einen äußern Gegenstand anzusehn,
und da er wußte, daß ich meine Konstitution, mein Übel, und die medizinischen Hülfsmittel ziemlich
kannte, und ich wirklich durch anhaltende eigene und fremde Leiden ein halber Arzt geworden war,
so leitete er meine Aufmerksamkeit von der Kenntnis des menschlichen Körpers und der Spezereien,
auf die übrigen nachbarlichen Gegenstände der Schöpfung, und führte mich wie im Paradiese umher,
und nur zuletzt, wenn ich mein Gleichnis fortsetzen darf, ließ er mich den in der Abendkühle im
Garten wandelnden Schöpfer aus der Entfernung ahnden.
Wie gerne sah ich nunmehr Gott wieder in der Natur, da ich ihn mit solcher Gewißheit im Herzen trug, wie
interessant war mir das Werk seiner Hände, und wie dankbar war ich, daß er mich mit dem Atem
seines Mundes hatte beleben wollen."

[Die Schöne Seele + ein französischer Geistlicher]
"Ein wunderbarer Mann, den man für einen französischen Geistlichen hält, ohne daß man recht von
seiner Herkunft unterrichtet ist, hat die Aufsicht über die sämtlichen Kinder, welche an
verschiedenen Orten erzogen werden und bald hier bald da in der Kost sind.
Ich konnte anfangs keinen Plan in dieser Erziehung sehn, bis mir mein Arzt zuletzt eröffnete,
der Oheim habe sich durch den Abbè überzeugen lassen, daß, wenn man an der Erziehung des Menschen
etwas tun wolle, müsse man sehen, wohin seine Neigungen und Wünsche gehen? sodann müsse man
ihn in die Lage versetzen, jene, sobald als möglich zu befriedigen, diese, sobald als möglich
zu erreichen, damit der Mensch, wenn er sich geirrt habe, früh genug seinen Irrtum gewahr werde,
und wenn er das getroffen hat, was für ihn paßt, desto eifriger daran halte und sich desto
emsiger fortbilde. Ich wünsche daß dieser sonderbare Versuch gelingen möge, bei so guten Naturen
ist es vielleicht möglich.
Aber das, was ich nicht an diesen Erziehern billigen kann, ist, daß sie alles von den Kindern zu
entfernen suchen, was sie zu dem Umgange mit sich selbst und mit dem unsichtbaren, einzigen treuen
Freund führen könne. Ja es verdrießt mich oft von dem Oheim, daß er mich deshalb für die Kinder für
gefährlich hält. Im praktischen ist doch kein Mensch tolerant! denn wer auch versichert, daß er jedem
seine Art und Wesen gerne lassen wolle, sucht doch immer diejenigen von der Tätigkeit auszuschließen,
die nicht so denken wie er.
Diese Art, die Kinder von mir zu entfernen, betrübt mich desto mehr, je mehr ich von der Realität
meines Glaubens überzeugt sein kann. Warum sollt er nicht einen göttlichen Ursprung, nicht einen
wirklichen Gegenstand haben, da er sich im praktischen so wirksam erweiset.
Werden wir durchs praktische doch unseres eigenen Daseins selbst erst recht gewiß, warum sollten
wir uns nicht auch auf eben dem Wege von jenem Wesen überzeugen können, das uns zu allem Guten die
Hand reicht?
Daß ich immer vorwärts, nie rückwärts gehe, daß meine Handlungen immer mehr der Idee ähnlich werden,
die ich mir von der Vollkommenheit gemacht habe, daß ich täglich mehr Leichtigkeit fühle das zu tun,
was ich für Recht halte, selbst bei der Schwäche meines Körpers, der mir so manchen Dienst versagt;
läßt sich das alles aus der menschlichen Natur, deren Verderben ich so tief eingesehen habe, erklären?
Für mich nun einmal nicht.
Ich erinnere mich kaum eines Gebotes, nichts erscheint mir in Gestalt eines Gesetzes, es ist ein Trieb
der mich leitet und mich immer recht führet; ich folge mit Freiheit meinen Gesinnungen, und weiß
so wenig von Einschränkungen als von Reue. Gott sei Dank, daß ich erkenne, wem ich dieses Glück
schuldig bin und daß ich an diese Vorzüge nur mit Demut denken darf. Denn niemals werde ich in
Gefahr kommen, auf mein eignes Können und Vermögen stolz zu werden, da ich so deutlich erkannt habe,
welch Ungeheuer in jedem menschlichen Busen, wenn eine höhere Kraft uns nicht bewahrt, sich erzeugen
und nähren könne."

************************************** 7. Buch *********************************

[Wilhelm]
"Der Frühling war in seiner völligen Herrlichkeit erschienen; ein frühzeitiges Gewitter, das den
ganzen Tag gedrohet hatte, ging stürmisch an den Bergen nieder, der Regen zog nach dem Lande,
die Sonne trat wieder in ihrem Glanze hervor und auf dem grauen Grunde erschien der herrliche
Bogen. Wilhelm ritt ihm entgegen und sah ihn mit Wehmut an. Ach! sagte er zu sich selbst,
erscheinen uns denn eben die schönsten Farben des Lebens nur auf dunklem Grunde? und müssen
Tropfen fallen, wenn wir entzückt werden sollen? Ein heiterer Tag ist wie ein grauer, wenn
wir ihn ungerührt ansehen und was kann uns rühren, als die stille Hoffnung, daß die angeborne
Neigung unsers Herzens nicht ohne Gegenstand bleiben werde? Uns rührt die Erzählung jeder guten
Tat, uns rührt das Anschauen jedes harmonischen Gegenstandes; wir fühlen dabei, daß wir nicht
ganz in der Fremde sind, wir wähnen einer Heimat näher zu sein, nach der unser Bestes, Innerstes
ungedultig hinstrebt."

[Dialog Wilhelm zu Pferde + ein Katholik]
"Wilhelm betrachtete ihn genauer und sagte nach einigem Stillschweigen: ich weiß nicht was für
eine Veränderung mit Ihnen vorgegangen sein mag, damals hielt ich Sie für einen lutherischen
Landgeistlichen und jetzt scheinen Sie mir eher einem katholischen ähnlich zu sehen.
Heute betrügen Sie sich wenigstens nicht, sagte der andere, indem er er den Hut abnahm und
die Tonsur sehen ließ. Wo ist denn Ihre (Theater) Gesellschaft hingekommen? sind
Sie noch lange bei ihr geblieben?
(Wilhelm) Länger als billig, denn leider wenn ich an jene Zeit zurück denke, die ich mit ihr zugebracht
habe, so glaube ich in ein unendliches Leere zu sehen, es ist mir nichts davon übrig geblieben.
(Katholik) Darin irren Sie sich, denn alles was uns begegnet läßt Spuren zurück, alles trägt unmerklich
zu unserer Bildung bei; doch es ist gefährlich, sich davon Rechenschaft geben zu wollen. Wir
werden entweder dabei stolz und lässig oder niedergeschlagen und kleinmütig, und eins ist für
die Folge so hinderlich als das andere. Das sicherste bleibt immer, nur das nächste zu tun was
vor uns liegt,[...]."

[Wilhelm, wieder allein]
"Ja wohl hat er recht! sagte Wilhelm vor sich, indem er weiter ritt, an das nächste sollte man
denken [...]."

[Wilhelm - in Lotharios Haus]
"Das Haus, worin er sich befand, kam ihm auch so wunderbar vor, er wußte sich in seine Lage
nicht zu finden. Er wollte sich ausziehen und öffnete seinen Mantelsack; mit seinen Nachtsachen
brachte er zugleich den Schleier des Geistes hervor, den Mignon eingepackt hatte. Der Anblick
vermehrte seine traurige Stimmung. Flieh, Jüngling flieh! rief er aus, was soll das mystische
Wort heißen? was fliehen? wohin fliehen? Weit besser hätte der Geist mir zugerufen: kehre
in dich selbst zurück!"

[Wilhelm + der Abbè - beim Frühstück]
"Ach! rief er (Abbè) aus, wem es lebhaft und gegenwärtig ist, welche unendliche Operationen Natur
und Kunst machen müssen, bis ein gebildeter Mensch dasteht, wer selbst so viel als möglich an der
Bildung seiner Mitbrüder Teil nimmt, der möchte verzweifeln, wenn er sieht, wie freventlich
sich oft der Mensch zerstört und so oft in den Fall kommt, mit oder ohne Schuld zerstört zu
werden. Wenn ich das bedenke, so scheint mir das Leben selbst eine so zufällige Gabe, daß ich
jeden loben möchte, der sie nicht höher als billig schätzt."

[Die vorigen + Lothario]

"Ich fühle heute so lebhaft, sagte er, wie töricht der Mensch seine Zeit verstreichen läßt!
Wie manches habe ich mir vorgenommen, wie manches durchgedacht, und wie zaudert man nicht bei
seinen besten Vorsätzen!"

[Wilhelm + Lothario + Jarno]
"Lange Überlegungen, versetzte Lothario, zeigen gewöhnlich, daß man den Punkt nicht im Auge hat,
von dem die Rede ist, übereilte Handlungen, daß man ihn gar nicht kennt. Ich übersehe sehr
deutlich, daß ich in vielen Stücken bei der Wirtschaft meiner Güter, die Dienste meiner
Landleute nicht entbehren kann, und daß ich auf gewissen Rechten strack und streng halten
muß; ich sehe aber auch, daß andere Befugnisse mir zwar vorteilhaft, aber nicht so unentbehrlich
sind, daß ich davon meinen Leuten auch was gönnen kann, und daß man nicht immer verliert, wenn
man entbehrt. Nutze ich nicht meine Güter weit besser als mein Vater? werde ich meine Einkünfte
nicht noch höher treiben? und soll ich diesen wachsenden Vorteil allein genießen? soll ich dem,
der mit und für mich arbeitet, nicht auch in dem Seinigen Vorteile gönnen, die uns erweiterte
Kenntnisse, die uns eine vorrückende Zeit darbietet?
Der Mensch ist nun einmal so! rief Jarno, und ich tadle mich nicht, wenn ich mich auch auf dieser
Eigenheit ertappe, der Mensch begehrt alles an sich zu reißen, um nur nach Belieben damit
schalten und walten zu können; das Geld, das er nicht selbst ausgibt, scheint ihm selten wohl
angewendet.
O ja! versetzte Lothario, wir könnten manches vom Kapital entbehren, wenn wir mit den Interessen
weniger willkürlich umgingen."

"[...]! o! mein Freund, fuhr Lothario fort, das ist ein Hauptfehler gebildeter Menschen, daß sie
alles an eine Idee, wenig oder nichts an einen Gegenstand wenden mögen.
Wozu habe ich Schulden gemacht? warum habe ich mich mit meinem Oheim entzweit? meine
Geschwister so lange sich selbst überlassen? als um einer Idee willen.
In Amerika glaubte ich zu wirken, über dem Meere glaubte ich nützlich und notwendig zu sein;
war eine Handlung nicht mit tausend Gefahren umgeben, so schien sie mir nicht bedeutend, nicht
würdig. Wie anders seh ich jetzt die Dinge, und wie ist mir das nächste so wert, so teuer
geworden.
Ich erinnere mich wohl des Briefes, versetzte Jarno, den ich noch über das Meer erhielt. Sie
schrieben mir: ich werde zurück kehren, und in meinem Hause, in meinem Baumgarten, mitten unter
den Meinigen sagen: hier, oder nirgends ist Amerika!
Ja, mein Freund, und ich wiederhole noch immer dasselbe, und doch schelte ich mich zugleich, daß
ich hier nicht so tätig wie dort bin. Zu einer gewissen gleichen, fortdauernden Gegenwart
brauchen wir nur Verstand, und wir werden auch nur zu Verstand, so daß wir das außerordentliche,
was jeder gleichgültige Tag von uns fordert, nicht mehr sehen, und wenn wir es erkennen,
doch tausend Entschuldigungen finden es nicht zu tun. Ein verständiger Mensch ist viel
für sich, aber fürs Ganze ist er wenig.
Wir wollen, sagte Jarno, dem Verstande nicht zu nahe treten, und bekennen, daß das außerordentliche,
was geschieht, meistens töricht ist.
Ja, und zwar eben deswegen, weil die Menschen das außerordentliche außer der Ordnung tun; so gibt mein
Schwager sein Vermögen, in so fern er es veräußern kann, der Brüdergemeinde, und glaubt seiner Seele
Heil dadurch zu befördern; hätte er einen geringen Teil seiner Einkünfte aufgeopfert, so hätte
er viel glückliche Menschen machen, und sich und ihnen einen Himmel auf Erden schaffen können.
Selten sind unsere Aufopferungen tätig, wir tun gleich Verzicht auf das, was wir weggeben.
Nicht entschlossen, sondern verzweifelt entsagen wir dem, was wir besitzen. Diese Tage, ich
gesteh es, schwebt mir der Graf immer vor Augen, und ich bin fest entschlossen, das aus Überzeugung
zu tun, wozu ihn ein ängstlicher Wahn treibt, ich will meine Genesung nicht abwarten. Hier
sind die Papiere, sie dürfen nur ins reine gebracht werden, nehmen Sie den Gerichtshalter dazu,
unser Gast hilft Ihnen auch. Sie wissen so gut als ich, worauf es ankommt, und ich will hier
genesend oder sterbend dabei bleiben und ausrufen: hier! oder nirgends, ist Herrnhut!"

[Wilhelm + Jarno]
"Ums Himmels willen! rief Wilhelm, als sie in dem Saal allein waren, was ist das mit dem Grafen?
welch ein Graf ist das, der sich unter die Brüdergemeinde begibt?
Den Sie sehr wohl kennen, versetzte Jarno. Sie sind das Gespenst, das ihn in die Arme der Frömmig-
keit jagt, Sie sind der Bösewicht, der sein artiges Weib in einen Zustand versetzt, in dem sie
erträglich findet, ihrem Manne zu folgen."

"Ich (Jarno) bin kein Soldat mehr, und auch als Soldat hätte ich Ihnen diesen Argwohn nicht einflößen
sollen.
Seit der Zeit, daß ich Sie nicht gesehen habe, hat sich vieles geändert. Nach dem Tode meines
Fürsten, meines einzigen Freundes und Wohltäters, habe ich mich aus der Welt und aus allen
weltlichen Verhältnissen herausgerissen. Ich beförderte gern was vernünftig war, verschwieg nicht
wenn ich etwas abgeschmackt fand, und man hatte immer von meinem unruhigen Kopf und von meinem
bösen Maule zu reden. Das Menschenpack fürchtet sich vor nichts mehr, als vor dem Verstande;
vor der Dummheit sollten sie sich fürchten, wenn sie begriffen, was fürchterlich ist; aber jener
ist unbequem, und man muß ihn bei Seite schaffen, diese ist nur verderblich, und das kann man
abwarten."

[Wilhelm - über das Theater]
"Ich bin gestraft genug! rief Wilhelm aus, erinnern Sie mich nicht, woher ich komme und wohin ich
gehe. Man spricht viel vom Theater, aber wer nicht selbst darauf war, kann sich keine Vorstellung
davon machen. Wie völlig diese Menschen mit sich selbst unbekannt sind, wie sie ihr Geschäft
ohne Nachdenken treiben, wie ihre Anforderungen ohne Grenzen sind, davon hat man keinen Begriff.
Nicht allein will jeder der erste, sondern auch der einzige sein, jeder möchte gerne alle übrigen ausschließen,
und sieht nicht, daß er mit ihnen zusammen kaum etwas leistet; jeder dünkt sich wunder Original zu sein, und
ist unfähig sich in etwas zu finden, was außer dem Schlendrian ist; dabei eine immerwährende Unruhe nach
etwas neuem.
Mit welcher Heftigkeit wirken sie gegen einander! und nur die kleinlichste Eigenliebe, der
beschränkteste Eigennutz macht, daß sie sich mit einander verbinden.
Vom wechselseitigen Betragen ist gar die Rede nicht, ein ewiges Mißtrauen wird durch heimliche
Tücke und schändliche Reden unterhalten; wer nicht liederlich lebt, lebt albern. Jeder macht
Anspruch auf die unbedingteste Achtung, jeder ist empfindlich gegen den mindesten Tadel.
Das hat er alles schon selbst besser gewußt! und warum hat er denn immer das Gegenteil getan?
Immer bedürftig und immer ohne Zutrauen, scheint es, als wenn sie sich vor nichts so sehr fürchten
als vor Vernunft und gutem Geschmack, und nichts so sehr zu erhalten suchen, als das Majestätsrecht
ihrer persönlichen Willkür.

[Dialog: Wilhelm + Jarno - über das Theater und die Welt]
"Wilhelm holte Atem, um seine Litanei noch weiter fortzusetzen, als ein unmäßiges Gelächter Jarnos ihn
unterbrach.
Die armen Schauspieler! rief er aus, warf sich in einen Sessel und lachte fort; die armen
guten Schauspieler! Wissen Sie denn, mein Freund, fuhr er fort, nachdem er sich einigermaßen
wieder erholt hatte, daß Sie nicht das Theater, sondern die Welt beschrieben haben, und daß
ich Ihnen aus allen Ständen genug Figuren und Handlungen zu Ihren harten Pinselstrichen finden
wollte? Verzeihen Sie mir, ich muß wieder lachen, daß Sie glaubten, diese schönen Qualitäten
seien nur auf die Bretter gebannt.
Wilhelm faßte sich, denn wirklich hatte ihn das unbändige und unzeitige Gelächter Jarnos verdrossen.
Sie können, sagte er, Ihren Menschenhaß nicht ganz verbergen, wenn sie behaupten, daß diese
Fehler allgemein seien.
(Jarno) Und es zeigt von Ihrer Unbekanntschaft mit der Welt, wenn Sie diese Erscheinungen dem Theater so
hoch anrechnen. Wahrhaftig, ich verzeihe dem Schauspieler jeden Fehler, der aus dem Selbstbetrug
und aus der Begierde, zu gefallen, entspringt; denn wenn er sich und andern nicht etwas scheint,
so ist er nichts. Zum Schein ist er berufen, er muß den augenblicklichen Beifall hoch schätzen,
denn er erhält keinen andern Lohn; er muß zu glänzen suchen, denn deswegen steht er da."

"(Jarno) Nein, bei Gott! dies ist mein völliger, wohlbedachter Ernst. Alle Fehler des Menschen verzeih ich
dem Schauspieler, keine Fehler des Schauspielers verzeih ich dem Menschen. Lassen sie mich meine
Klagelieder hierüber nicht anstimmen, sie würden heftiger klingen als die Ihrigen."

[Wilhelm + Jarno + der Medicus, über ein Gespräch mit dem Harfenspieler]
"Nachdem man Jarnos Neugierde befriediget hatte, fuhr der Arzt fort: nie habe ich ein Gemüt in
einer so sonderbaren Lage gesehen. Seit vielen Jahren hat er an nichts, was außer ihm war, den
mindestens Anteil genommen, ja fast auf nichts gemerkt, bloß in sich gekehrt, betrachtete er
sein hohles leeres Ich, das ihm als ein unermeßlicher Abgrund erschien. Wie rührend war es,
wenn er von diesem traurigen Zustande sprach! ich sehe nichts vor mir, nichts hinter mir. rief
er aus, als eine unendliche Nacht, in der ich mich in der schrecklichsten Einsamkeit befinde,
kein Gefühl bleibt mir als das Gefühl einer Schuld, die doch auch nur wie ein entferntes unförmliches
Gespenst sich rückwärts sehen läßt. Doch da ist keine Höhe, keine Tiefe, kein Vor noch Zurück,
kein Wort drückt diesen immer gleichen Zustand aus, manchmal ruf ich in der Not dieser
Gleichgültigkeit: Ewig! ewig! mit Heftigkeit aus, und dieses seltsame unbegreifliche Wort ist hell und
klar gegen die Finsternis meines Zustandes. Kein Strahl einer Gottheit erscheint mir in dieser
Nacht, ich weine meine Tränen alle mir selbst und um mich selbst.
Nichts ist mir grausamer als Freundschaft und Liebe, denn sie allein locken mir den Wunsch ab,
daß die Erscheinungen, die mich umgeben, wirklich sein möchten. Aber auch diese beiden Gespenster
sind nur aus dem Abgrunde gestiegen, um mich zu ängstigen, und um mir zuletzt auch das teure
Bewußtsein dieses ungeheuren Daseins zu rauben."

[Wilhelm + Jarno - über die Täuschung von Lydie mit Wilhelms Hilfe]
"Es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich jemanden auf diese Weise hintergehe. Denn ich habe
immer geglaubt, daß es uns zu weit führen könne, wenn wir einmal um des Guten und Nützlichen
willen zu betrügen anfangen.
Können wir doch Kinder nicht anders erziehen, als auf diese Weise, versetzte Jarno.
Bei Kindern möchte es noch hingehen, sagte Wilhelm, indem wir sie so zärtlich lieben und offenbar
übersehen; aber bei unsers Gleichen, für die uns nicht immer das Herz so laut um Schonung
anruft, möchte es oft gefährlich werden. Doch glauben Sie nicht, fuhr er nach einem kurzen
Nachdenken fort, daß ich deswegen diesen Auftrag ablehne. Bei der Ehrfurcht, die mir Ihr Verstand
einflößt, bei der Neigung, die ich für Ihren trefflichen Freund fühle, bei dem lebhaften Wunsch,
seine Genesung, durch welche Mittel sie auch möglich sei, zu befördern, mag ich mich gerne selbst
vergessen. Es ist nicht genug, daß man sein Leben für einen Freund wagen könne, man muß auch im
Notfall seine Überzeugung für ihn verleugnen. Unsere liebste Leidenschaft, unsere besten Wünsche
sind wir für ihn aufzuopfern schuldig. Ich übernehme den Auftrag, ob ich gleich schon die Qual
vorauessehe, die ich von Lydiens Tränen, von ihrer Verzweiflung werde zu erdulden haben."

[Wilhelm - in Hoffnung auf eine Wiederbegegnung mit der schönen Amazone]
"Die neue nahe Hoffnung, jene verehrte und geliebte Gestalt wieder zu sehen, brachte in ihm die
sonderbarsten Bewegungen hervor. Er hielt nunmehr den Auftrag, der ihm gegeben worden war, für
ein Werk einer ausdrücklichen Schickung, und der Gedanke, daß er ein armes Mädchen von dem
Gegenstande ihrer aufrichtigsten und heftigsten Liebe hinterlistig zu entfernen im Begriff war,
erschien ihm nur im Vorübergehen, wie der Schatten eines Vogels über die erleuchtete Erde
wegfliegt."

[Wilhelm + Therese - Gespräch über Lydie und Lothario]
"Sie erzeigt mir zu viel Ehre, indem sie mich schilt, versetzte Wilhelm, ich darf an die Freundschaft
dieses trefflichen Mannes noch keinen Anspruch machen, und bin diesmal nur ein unschuldiges Werkzeug,
ich will meine Handlung nicht loben, genug, ich konnte sie tun! Es war von der Gesundheit, es war von
dem Leben eines Mannes die Rede, den ich höher schätzen muß als irgend jemand, den ich vorher kannte.
O welch ein Mann ist das! Fräulein, und welche Menschen umgeben ihn! in dieser Gesellschaft habe ich, so
darf ich wohl sagen, zum erstenmal ein Gespräche geführt, zum erstenmal kam mir der eigenste Sinn meiner
Worte aus dem Munde eines andern reichhaltiger, voller und in einem größern Umfang wieder entgegen, was
ich ahndete ward mir klar, und was ich meinte lernte ich anschauen. Leider ward dieser Genuß erst durch
allerlei Sorgen und Grillen, dann durch den unangenehmen Auftrag unterbrochen. Ich übernahm ihn mit Ergebung,
denn ich hielt für Schuldigkeit, selbst mit Aufopferung meines Gefühls, diesem trefflichen Kreise von Menschen
meinen Einstand abzutragen.
Therese hatte unter diesen Worten ihren Gast sehr freundlich angesehen. O! wie süß ist es! rief sie aus,
seine eigne Überzeugung aus einem fremden Munde zu hören! Wie werden wir erst recht wir selbst, wenn uns ein
anderer vollkommen Recht gibt! Auch ich denke über Lothario vollkommen wie Sie, nicht jedermann läßt
ihm Gerechtigkeit wiederfahren, dafür schwärmen aber auch alle die für ihn, die ihn näher kennen,
und das schmerzliche Gefühl, das sich in meinem Herzen zu seinem Andenken mischt, kann mich nicht
abhalten täglich an ihn zu denken."

"Wir haben, sagte sie, nun das Losungswort unserer Verbindung ausgesprochen, lassen Sie uns sobald als
möglich mit einander völlig bekannt werden. Die Geschichte des Menschen ist sein Charakter.
Ich will Ihnen erzählen, wie es mir ergangen ist, schenken Sie mir ein gleiches Vertrauen, und lassen Sie
uns auch in der Ferne verbunden bleiben.
Die Welt ist so leer, wenn man nur Berge, Flüsse und Städte darin denkt, aber hie und da jemanden
zu wissen, der mit uns übereinstimmt, mit dem wir auch stillschweigend fortleben, das macht uns
dieses Erdenrund erst zu einem bewohnten Garten."

"Wohlhabend ist jeder, der dem, was er besitzt, vorzustehen weiß; vielhabend zu sein ist eine lästige Sache,
wenn man es nicht versteht.
Wilhelm zeigte seine Verwunderung über ihre Wirtschaftskenntnisse. - Entschiedene Neigung, frühe
Gelegenheit, äußerer Antrieb und eine fortgesetzte Beschäftigung in einer nützlichen Sache, machen in
der Welt noch viel mehr möglich, versetzte Therese, und wenn Sie erst erfahren werden, was mich dazu
belebt hat, so werden Sie sich über das sonderbar scheinende Talent nicht mehr wundern."

[Wilhelm - in Gedanken an Therese und sie Amazone]
"Besonders fiel ihm auf: daß er nun wieder eine so interessante Person kennen lernte, die mit Lothario
in einem nahen Verhältnisse gestanden hatte. Billig ist es, sagte er zu sich selbst, daß so ein
trefflicher Mann auch treffliche Weiberseelen an sich ziehe! Wie weit verbreitet sich die Wirkung
der Männlichkeit und Würde. Wenn nur andere nicht so sehr dabei zu kurz kämen! Ja, gestehe
dir nur deine Furcht. Wenn du dereinst deine Amazone wieder antriffst, diese Gestalt aller Gestalten,
du findest sie, trotz aller deiner Hoffnungen und Träume, zu deinen Beschämung und Demütigung doch
noch am Ende - als seine Braut.

[Wilhelm + Therese]
"Leider hab ich, versetzte Wilhelm, nichts zu erzählen, als Irrtümer auf Irrtümer, Verirrungen auf
Verirrungen, und ich wüßte nicht, wem ich die Verworrenheiten, in denen ich mich befand und
befinde, lieber verbergen möchte als Ihnen; Ihr Blick und alles was Sie umgibt, Ihr ganzes Wesen
und Ihr Betragen zeigt mir, daß Sie sich Ihres vergangenen Lebens freuen können, daß Sie auf
einem schönen reinen Wege in einer sichern Folge gegangen sind, daß Sie keine Zeit
verloren, daß Sie sich nichts vorzuwerfen haben."

[Theres + Lothario + eine kleine Gesellschaft - über die Frauen]
"Aber unaussprechlich war meine Zufriedenheit, als ich ihn eines Abends über die Frauen reden hörte.
Das Gespräch machte sich ganz natürlich; einige Damen aus der Nachbarschaft hatten uns besucht
und über die Bildung der Frauen die gewöhnlichen Gespräche geführt. Man sei ungerecht gegen unser
Geschlecht, hieß es, die Männer wollten alle höhere Kultur für sich behalten, man wolle uns zu
keinen Wissenschaften zulassen, man verlange, daß wir nur Tändelpuppen oder Haushälterinnen
sein sollten. Lothario sprach wenig zu allem diesem; als aber die Gesellschaft kleiner ward, sagte er
auch hierüber offen seine Meinung. Es ist sonderbar, rief er aus, daß man es dem Manne verargt,
der eine Frau an die höchste Stelle setzen will, die sie einzunehmen fähig ist: und welche ist
höher als das Regiment des Hauses? Wenn der Mann sich mit äußern Verhältnissen quält, wenn er
die Besitztümer herbei schaffen und beschützen muß, wenn er sogar an der Staatsverwaltung Anteil nimmt,
überall von Umständen abhängt, und, ich möchte sagen, nichts regiert, indem er zu regieren glaubt,
immer nur politisch sein muß, wo er gern vernünftig wäre, versteckt, wo er offen, falsch, wo er
redlich zu sein wünschte, wenn er um des Zieles willen, das er nie erreicht, das schönste Ziel,
die Harmonie mit sich selbst, in jedem Augenblicke aufgeben muß, indessen herrscht eine vernünftige
Hausfrau im Innern wirklich, und macht einer ganzen Familie jede Tätigkeit, jede Zufriedenheit
möglich. Was ist das höchste Glück des Menschen, als daß wir das ausführen, was wir als recht
und gut einsehen? daß wir wirklich Herren über die Mittel zu unsern Zwecken sind.
Und wo sollen, wo können unsere nächsten Zwecke liegen, als innerhalb des Hauses? alle immer
wiederkehrenden, unentbehrlichen Bedürfnisse, wo erwarten wir, wo fordern wir sie, als da, wo wir
aufstehn und uns niederlegen, wo Küche und Keller und jede Art von Vorrat für uns und die unsrigen
immer bereit sein soll? Welche regelmäßige Tätigkeit wird erfordert, um diese immer wiederkehrende
Ordnung in einer unverrückten lebendigen Folge durchzuführen? wie wenig Männern ist es gegeben,
gleichsam als ein Gestirn regelmäßig wiederzukehren, und dem Tage, so wie der Nacht vorzustehn?
sich ihre häuslichen Werkzeuge zu bilden, zu pflanzen und zu ernten, zu verwahren und
auszuspenden, und den Kreis immer mit Ruhe, Liebe und Zweckmäßigkeit zu durchwandlen. Hat ein
Weib einmal diese innere Herrschaft ergriffen, so macht sie den Mann, den sie liebt, erst allein dadurch
zum Herrn; ihre Aufmerksamkeit erwirbt alle Kenntnisse und ihre Tätigkeit weiß sie alle zu
benutzten. So ist sie von niemand abhängig und verschafft ihrem Manne die wahre Unabhängigkeit,
die häusliche, die innere; das was er besitzt, sieht er gesichert, das was er erwirbt gut benutzt,
und so kann er sein Gemüt nach großen Gegenständen wenden, und, wenn das Glück gut ist, das dem
Staate sein, was seiner Gattin zu Hause so wohl ansteht.
Er machte darauf eine Beschreibung, wie er sich eine Frau wünsche. Ich ward rot, denn er beschrieb
mich, wie ich leibte und lebte. Ich genoß im Stillen meinen Triumph, um so mehr, da ich aus allen
Umständen sah, daß er mich persönlich nicht gemeint hatte, daß er mich eigentlich nicht kannte.
Ich erinnere mich keiner angenehmern Empfindung in meinem ganzen Leben, als daß ein Mann, den ich
so sehr schätzte, nicht meiner Person, sondern meiner innersten Natur den Vorzug gab.
Welche Belohnung fühlte ich! welche Aufmunterung war mir geworden!
Als sie weg waren, sagte meine würdige Freundin lächelnd zu mir: Schade daß die Männer oft denken
und reden, was sie doch nicht zur Ausführung kommen lassen, sonst wäre eine treffliche Partie für
meine liebe Therese geradezu gefunden. Ich scherzte über ihre Äußerung, und fügte hinzu, daß zwar
der Verstand der Männer sich nach Haushälterinnen umsehe, daß aber ihr Herz und ihre Einbildungskraft
sich nach andern Eigenschaften sehne, und daß wir Haushälterinnen eigentlich gegen die liebenswürdigen
und reizenden Mädchen keinen Wettstreit aushalten können."

[Wilhelm + Therese]
"Therese kam auf sein Zimmer, und bat um Verzeihung, daß sie ihn störe, hier in dem Wandschrank, sagte
sie, steht meine ganze Bibliothek, es sind eher Bücher, die ich nicht wegwerfe, als die ich aufhebe.
Lydie verlangt ein geistliches Buch, es findet sich wohl auch eins und das andere darunter.
Die Menschen, die das ganze Jahr weltlich sind, bilden sich ein, sie müßten zur Zeit der Not
geistlich sein, sie sehen alles Gute und Sittliche wie eine Arzenei an, die man mit Widerwillen
zu sich nimmt, wenn man sich schlecht befindet, sie sehen in einem Geistlichen, einem Sittenlehrer
nur einen Arzt, den man nicht geschwind genug aus dem Hause los werden kann; ich aber gestehe
gern, ich habe vom Sittlichen den Begriff als von einer Diät, die eben dadurch nur Diät ist, wenn
ich sie zur Lebensregel mache, wenn ich sie das ganze Jahr nicht außer Augen lasse.
Sie suchten unter den Büchern, und fanden einige sogenannte Erbauungsschriften. Die Zuflucht
zu diesen Büchern, sagte Therese, hat Lydie von meiner Mutter gelernt; Schauspiel und Roman waren ihr
Leben, so lang der Liebhaber treu blieb, seine Entfernung brachte sogleich diese Bücher wieder in
Kredit. Ich kann überhaupt nicht begreifen, fuhr sie fort, wie man hat glauben können, daß Gott
durch Bücher und Geschichten zu uns spreche. Wem die Welt nicht unmittelbar eröffnet, was sie
für ein Verhältnis zu ihm hat, wem sein Herz nicht sagt, was er sich und andern schuldig ist, der
wird es wohl schwerlich aus Büchern erfahren, die eigentlich nur geschickt sind unsern Irrtümern
Namen zu geben."

[Theres]
"Nichts bleibt weniger verborgen und ungenutzt, als zweckmäßige Tätigkeit. Kaum hatte sie sich auf
ihrem kleinen Gute eingerichtet, so suchten die Nachbarn schon ihre nähere Bekanntschaft und ihren
Rat, und der neue Besitzer der angrenzenden Güter gab nicht undeutlich zu verstehen, daß es nur auf
sie ankomme, ob sie seine Hand annehmen und Erbe des größten Teils seines Vermögens werden wolle.
Sie hatte schon gegen Wilhelmen dieses Verhältnis erwähnt, und scherzte gelegentlich über Heiraten und
Mißheiraten mit ihm. Es gibt, sagte sie, den Menschen nichts mehr zu reden, als wenn einmal eine Heirat
geschieht, die sie nach ihrer Art eine Mißheirat nennen können, und doch sind die Mißheiraten viel
gewöhnlicher als die Heiraten; denn es sieht leider nach einer kurzen Zeit mit den meisten Verbindungen gar
mißlich aus. Die Vermischung der Stände durch Heiraten verdienen nur in sofern Mißheiraten genannt
zu werden, als Ein Teil an der angebornen, angewohnten und gleichsam notwendig gewordenen Existenz des andern
keinen Teil nehmen kann. Die verschiedenen Klassen haben verschiedene Lebensweisen, die sie nicht
mit einander teilen noch verwechseln können, und das ists, warum Heiraten dieser Art besser nicht
geschlossen werden; aber Ausnahmen und recht glückliche Ausnahmen sind möglich. So ist die Heirat
eines jungen Mädchens mit einem bejahrten Manne immer mißlich, und doch habe ich sie recht gut
ausschlagen sehen. Für mich kenne ich nur Eine Mißheirat, wenn ich feiern und repräsentieren müßte;
ich wollte lieber jeden ehrbaren Pächtersohn aus der Nachbarschaft heiraten."
[Wilhelm + Lothario - über Therese und Aurelie]
"Es ist wahr, sagte Lothario, angenehmer kann keine Empfindung in der Welt sein, als wenn das Herz
nach einer gleichgültigen Pause sich der Liebe zu einem neuen Gegenstande wieder eröffnet, und doch
wollt ich diesem Glück für mein Leben entsagt haben, wenn mich das Schicksal mit Theresen hätte
verbinden wollen. Man ist nicht immer Jüngling, und man sollte nicht immer Kind sein.
Dem Manne, der die Welt kennt, der weiß, was er darin zu tun, was er von ihr zu hoffen hat, was kann
ihm erwünschter sein, als eine Gattin zu finden, die überall mit ihm wirkt, und die ihm alles
vorzubereiten weiß, deren Tätigkeit dasjenige aufnimmt, was die seinige liegen lassen muß, deren
Geschäftigkeit sich nach allen Seiten verbreitet, wenn die seinige nur einen geraden Weg fortgehen darf;
welchen Himmel hatte ich mir mit Theresen geträumt, nicht den Himmel eines schwärmerischen Glücks,
sondern eines sichern Lebens auf der Erde.
Ordnung im Glück, Mut im Unglück, Sorge für das Geringste, und eine Seele, fähig das Größte zu fassen
und wieder fahren zu lassen. O! ich sah in ihr gar wohl die Anlagen, deren Entwickelung wir
bewundern, wenn wir in der Geschichte Frauen sehen, die uns weit vorzüglicher als alle Männer
erscheinen; diese Klarheit über die Umstände; diese Gewandtheit in allen Fällen; diese Sicherheit
im einzelnen, wodurch das Ganze sich immer so gut befindet, ohne daß sie jemals daran zu denken
scheinen. Sie können wohl, fuhr er fort, indem er sich lächelnd gegen Wilhelmen wendete, mir
verzeihen, wenn Therese mich Aurelien entführte, mit jener konnte ich ein heitres Leben hoffen,
da bei dieser auch nicht an eine glückliche Stunde zu denken war.
Ich leugne nicht, versetzte Wilhelm, daß ich mit großer Bitterkeit im Herzen gegen Sie hierher gekommen,
bin und daß ich mir vorgenommen hatte, Ihr Betragen gegen Aurelien sehr streng zu tadeln.
Auch verdient es Tadel, versetzte Lothario, ich hätte meine Freundschaft zu ihr nicht mit dem Gefühl
der Liebe verwechseln sollen, ich hätte nicht an die Stelle der Achtung, die sie verdiente, eine
Neigung eindrängen sollen, die sie weder erregen, noch erhalten konnte.
Ach! Sie war nicht liebenswürdig, wenn sie liebte, und das ist das größte Unglück, das einem Weibe
begegnen kann.
Es sei drum, versetzte Wilhelm, wir können nicht immer das Tadelnswerte vermeiden, nicht vermeiden,
daß unsere Gesinnungen und Handlungen auf eine sonderbare Weise von ihrer natürlichen und guten
Richtung abgelenkt werden; aber gewisse Pflichten sollten wir niemals aus den Augen setzen."

[Wilhelm + Jarno + Lothario - im Gespräch über die Kinder Mignon und Felix]
"Wir wollen damit bald fertig sein, versetzte Lothario, das wunderliche Mädchen übergeben wir Theresen,
sie kann unmöglich in bessere Hände geraten, und was den Knaben betrifft, den, dächt' ich, nähmen
Sie selbst zu sich; denn was selbst die Frauen an uns ungebildet zurück lassen, das bilden die Kinder
aus, wenn wir uns mit ihnen abgeben.
Überhaupt dächte ich, versetzte Jarno, Sie entsagen kurz und gut dem Theater, zu dem Sie doch
einmal kein Talent haben.
Wilhelm war betroffen, er mußte sich zusammen nehmen, denn Jarnos harte Worte hatten seine Eigenliebe
nicht wenig verletzt. Wenn Sie mich davon überzeugen, versetzte er mit gezwungenen Lächeln,
so werden Sie mir einen Dienst erweisen, ob es gleich nur ein trauriger Dienst ist, wenn man
uns aus einem Lieblingstraume aufschüttelt."

[Wilhelm + Frau Melina - im Gespräch über das Theater]
"Ich zweifle daran, sagte Wilhelm, und erwarte es nicht. Gestehen Sie nur, man hat Anstalten gemacht
mich entbehren zu können.
Warum sind Sie auch weggegangen! versetzte die Freundin. Man kann die Erfahrung nicht früh genug
machen, wie entbehrlich man in der Welt ist. Welche wichtige Personen glauben wir zu sein!
Wir denken allein den Kreis zu beleben, in welchem wir wirken; in unserer Abwesenheit muß, bilden
wir uns ein, Leben, Nahrung und Atem stocken, und die Lücke, die entsteht, wird kaum bemerkt, sie füllt
sich so geschwind wieder aus, ja sie wird oft nur der Platz, wo nicht für etwas besseres, doch für
angenehmeres."

"Auch unsere Freunde tun wohl, wenn sie sich bald finden, wenn sie sich sagen; da wo du bist, da
wo du bleibst, wirke was du kannst, sei tätig und gefällig, und laß dir die Gegenwart heiter sein."

"So unterhielten sie sich über manches, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hatte, und er konnte
gar wohl bemerken, daß er, dem Geist und den Sinn der Gesellschaft nach, wirklich längst verabschiedet
war."

[Wilhelm + Laertes + weiter Personen]
"Laertes riß ihn aus seinem Nachdenken, und führte ihn auf ein Kaffeehaus, wo sich sogleich
mehrere Personen um ihn versammelten, die ihn sonst gern auf dem Theater gesehen hatten, sie freuten
sich seiner Gegenwart, bedauerten aber, daß er, wie sie hörten, die Bühne verlassen wolle;
sie sprachen so bestimmt und vernünftig von ihm und seinem Spiele, von dem Grade seines Talentes, von
ihren Hoffnungen, daß Wilhelm nicht ohne Rührung zuletzt ausrief: o wie unendlich wert wäre mir diese
Teilnahme vor wenigen Monaten gewesen! wie belehrend und wie erfreuend! niemals hätte ich mein Gemüt
so ganz von der Bühne abgewendet, und niemals wäre ich so weit gekommen, am Publiko zu verzweifeln.
Dazu sollte es überhaupt nicht kommen, sagte ein ältlicher Mann, der hervortrat, das Publikum ist
groß, wahrer Verstand und wahres Gefühl sind nicht so selten als man glaubt, nur muß der Künstler
niemals einen unbedingten Beifall für das, was er hervorbringt, verlangen, denn eben der unbedingte
ist am wenigsten wert, und den bedingten wollen die Herren nicht gerne. Ich weiß wohl, im Leben
wie in der Kunst muß man mit sich zu Rate gehen, wenn man etwas tun und hervorbringen soll; wenn
es aber getan oder vollendet ist, so darf man mit Aufmerksamkeit nur viele hören, und man kann sich
mit einiger Übung aus diesen vielen Stimmen gar bald ein ganzes Urteil zusammen setzen, denn
diejenigen, die uns die Mühe ersparen könnten, halten sich meist stille genug.
Das sollten sie eben nicht, sagte Wilhelm, ich habe so oft gehört, daß Menschen, die selbst über
gute Werke schwiegen, doch beklagten und bedauerten, daß geschwiegen wird."

[Wilhelm]
"Wilhelm schrieb vor seiner Abreise aus der Stadt noch einen weitläuftigen Brief an Wernern. Sie
hatten zwar einige Briefe gewechselt, aber weil sie nicht einig werden konnten, hörten sie zuletzt
auf zu schreiben. Nun hatte sich Wilhelm wieder genähert, er war im Begriff dasjenige zu tun, was jener
so sehr wünschte, er konnte sagen: ich verlasse das Theater, und verbinde mich mit Männern, deren Umgang mich,
in jedem Sinne, zu einer reinen und sichern Tätigkeit führen muß. Er erkundigte sich nach seinem
Vermögen, und es schien ihm nunmehr sonderbar, daß er so lange sich nicht darum bekümmert hatte.
Er wußte nicht, daß es die Art aller der Menschen sei, denen an ihrer innern Bildung viel gelegen ist,
daß sie die äußeren Verhältnisse ganz und gar vernachlässigen. Wilhelm hatte sich in diesem Falle
befunden, er schien nunmehr zum erstenmal zu merken, daß er äußerer Hülfsmittel bedürfe, um
nachhaltig zu wirken."

[Wilhelm + Jarno]
"Eines Abends sagte Jarno zu ihm: Wir können Sie nun so sicher als den unsern ansehen, daß es unbillig
wäre, wenn wir sie nicht tiefer in unsere Geheimnisse einführten. Es ist gut, daß der Mensch, der
erst in die Welt tritt, viel von sich halte, daß er sich viele Vorzüge zu erwerben denke,
daß er alles mögliche zu machen suche; aber wenn seine Bildung auf einem gewissen Grade steht,
dann ist es vorteilhaft, wenn er sich in einer größeren Masse verlieren lernt, wenn er lernt um anderer
willen zu leben, und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Tätigkeit zu vergessen.
Da lernte er sich erst selbst kennen, denn das Handeln eigentlich vergleicht uns mit andern.
Sie sollen bald erfahren, welch eine kleine Welt sich in Ihrer Nähe befindet, und wie gut Sie in
dieser kleinen Welt gekannt sind;[...]."

[Wilhelm + der Landesgeistliche, im Turmsaal]
"[...]; er glich dem Abbè, ob er gleich nicht dieselbe Person schien. Mit einem heitern Gesichte und
einem würdigen Ausdruck fing der Mann an: nicht vor Irrtum zu bewahren, ist die Pflicht des
Menschenerziehers, sondern den Irrenden leiten, ja ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern
ausschlurfen zu lassen, das ist Weisheit der Lehrer. Wer seinen Irrtum nur kostet, hält
lange damit Haus, er freuet sich dessen als eines seltenen Glücks, aber wer ihn ganz erschöpft,
der muß ihn kennen lernen, wenn er nicht wahsinnig ist. Der Vorhang schloß sich abermals, und
Wilhelm hatte Zeit nachzudenken. Von welchem Irrtum kann der Mann sprechen? sagte er zu sich
selbst, als von dem, der mich mein ganzes Leben verfolgt hat, daß ich da Bildung suchte, wo
keine zu finden war, daß ich mir einbildete ein Talent erwerben zu können, zu dem ich nicht
die geringste Anlage hatte.
Der Vorhang riß sich schneller auf, ein Offizier trat hervor, und sagte nur im Vorbeigehen:
lernen Sie die Menschen kennen, zu denen man Zutrauen haben kann!"

[Wilhelm + der Abbè - Wilhelms Lehrbrief]
"Hir ist der Lehrbrief, sagte der Abbè, beherzigen ie ihn er ist von wichtigem Inhalt. Wilhelm
nahm ihn auf und las:
Lehrbrief
Die Kunst ist lang, das Leben kurz, das Urteil schwierig, die Gelegenheit flüchtig.
Handeln ist leicht, denken schwer; nach dem Gedachten handeln unbequem.
Aller Anfang ist heiter, die Schwelle ist der Platz der Erwartung. Der Knabe staunt, der Eindruck
bestimmt ihn, er lernt spielend, der Ernst überrascht ihn. Die Nachahmung ist uns angeboren, das
Nachzuahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird das Treffliche gefunden, seltner geschätzt.
Die Höhe reizt uns, nicht die Stufen; den Gipfel im Auge wandeln wir gerne auf der Ebene.
Nur Ein Teil der Kunst kann gelehrt werden, der Künstler braucht sie ganz. Wer sie halb kennt,
ist immer irre und redet viel, wer sie ganz besitzt, mag nur tun und redet selten oder spät.
Jene haben keine Geheimnisse und keine Kraft, ihre Lehre ist wie gebackenes Brot schmackhaft und
sättigend für Einen Tag; aber Mehl kann man nicht säen, und die Saatfrüchte sollen nicht vermahlen
werden.
Die Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste. Das Beste wird nicht deutlich durch Worte.
Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste. Die Handlung wird nur vom Geiste begriffen
und wieder dargestellt. Niemand weiß was er tut, wenn er recht handelt, aber des Unrechten sind
wir uns immer bewußt. Wer bloß mit Zeichen wirkt, ist ein Pedant, ein Heuchler oder ein Pfuscher.
Es sind ihrer viel, und es wird ihnen wohl zusammen. Ihr Geschwätz hält den Schüler zurück,
und ihre beharrliche Mittelmäßigkeit ängstigt die Besten. Des echten Künstlers Lehre schließt den
Sinn auf, denn wo die Worte fehlen, spricht die Tat. Der echte Schüler lernt aus dem Bekannten das
Unbekannte entwickeln, und nähert sich dem Meister.

[Wilhelm + der Abbè]
"Fragen Sie nicht! sagte der Abbè, Heil Dir junger Mann! Deine Lehrjahre sind vorüber, die Natur
hat Dich losgesprochen."

******************************** 8.Buch **************************

[Wilhelm + sein Sohn Felix]
"Sie gesellten sich endlich zum Gärtner, der die Namen und den Gebrauch mancher Pflanzen
hererzählen mußte; Wilhelm sah die Natur durch ein neues Organ, und die Neugierde, die Wißbegierde
des Kindes ließen ihn erst fühlen, welch ein schwaches Interesse er an den Dingen außer sich genommen
hatte, wie wenig er kannte und wußte. An diesem Tag, dem vergnügtesten seines Lebens schien auch seine
eigne Bildung erst anzufangen, er fühlte die Notwendigkeit sich zu belehren, indem er zu lehren auf-
gefordert ward."

[Wilhelm + Werner]
"Wilhelm rühmte seine Lage und das Glück seiner Aufnahme unter so trefflichen Menschen. Werner
schüttelte dagegen den Kopf, und sagte: man sollte doch auch nichts glauben, als was man mit Augen
sieht! Mehr als Ein dienstfertiger Freund hat mir versichert, du lebtest mit einem
liederlichen jungen Edelmann, führtest ihm Schauspielerinnen zu, helfest ihm sein Geld
durchbringen, und seiest schuld, daß er mit seinen sämtlichen Anverwandten gespannt sei. -
Es würde mich um meinet - und um der guten Menschen willen verdrießen, daß wir so verkannt
werden, versetzte Wilhelm, wenn mich nicht meine theatralische Laufbahn mit jeder übeln
Nachrede versöhnt hätte. Wie sollten die Menschen unsere Handlungen beurteilen, die ihnen
nur einzeln und abgerissen erscheinen, wovon sie das wenigste sehen, weil Gutes und Böses
im Verborgenen geschieht, und eine gleichgültige Erscheinung meistens nur an den Tag kommt.
Bringt man ihnen doch Schauspieler und Schauspielerinnen auf erhöhte Bretter, zündet von
allen Seiten Licht an, das ganze Werk ist in wenigen Stunden abgeschlossen, und doch weiß
selten jemand eigentlich, was er daraus machen soll."

"Deine neuen Freunde sollen gepriesen sein, daß sie Dich auf den rechten Weg gebracht haben.
Ich [Werner) bin ein närrischer Teufel, und merke erst, wie lieb ich Dich habe, da ich mich nicht satt
an Dir sehen kann, daß Du so wohl und so gut aussiehst. Das ist doch noch eine andere Gestalt, als
das Portrait, das Du einmal an die Schwester schicktest, und worüber im Haus großer Streit war.
Mutter und Tochter fanden den jungen Herrn allerliebst, mit offnem Halse, halbfreier Brust, großer
Krause, herumhängendem Haar, rundem Hut, kurzem Westchen und schlotternden langen Hosen, indessen ich
behauptete, das Kostum sei nur noch zwei Finger breit vom Hanswurst. Nun siehst Du doch aus wie ein
Mensch, [...]."

[Wilhelm allein mit seinem Sohn, im Nachdenken über Felix]
"Alles, was er anzulegen gedachte, sollte dem Knaben entgegen wachsen, und alles, was er
herstellte, sollte eine Dauer auf einige Geschlechter haben. In diesem Sinne waren seine
Lehrjahre geendigt, und mit dem Gefühl des Vaters hatte er auch alle Tugenden eines Bürgers
erworben. Er fühlte es, und seiner Freude konnte nichts gleichen. O! der unnötigen Strenge
der Moral! rief er aus, da die Natur uns auf ihre liebliche Weise zu allem bildet, was
wir sein sollen. O! der seltsamen Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft, die uns erst
verwirrt und mißleitet, und dann mehr als die Natur selbst von uns fordert. Wehe jeder
Art von Bildung, welche die wirksamsten Mittel wahrer Bildung zerstört, und uns auf das
Ende hinweist, an statt uns auf dem Wege selbst zu beglücken.
So manches er auch in seinem Leben schon gesehen hatte, so schien ihm doch die menschliche
Natur erst durch die Beobachtung des Kindes deutlich zu werden. Das Theater war ihm,
wie die Welt, nur als eine Menge ausgeschütteter Würfel vorgekommen, deren jeder einzeln
auf seiner Oberfläche bald mehr, bald weniger bedeutet, und die allenfalls, zusammengezählt,
eine Summe machen. Hier im Kinde lag ihm, konnte man sagen, ein einzelner Würfel vor,
auf dessen vielfachen Seiten der Wert und der Unwert der menschlichen Natur so deutlich
eingegraben war.
Das Verlangen des Kindes nach Unterscheidung wuchs mit jedem Tage. Da es einmal erfahren
hatte, daß die Dinge Namen haben, so wollte es auch den Namen von allem hören, es glaubte
nicht anders sein Vater müsse alles wissen, quälte ihn oft mit Fragen, und gab ihm Anlaß
sich nach Gegenständen zu erkundigen, denen er sonst wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatte.
Auch der eingeborne Trieb, die Herkunft und das Ende der Dinge zu erfahren, zeigte sich
früh bei dem Knaben. Wenn er fragte, wo der Wind herkomme und wo die Flamme hinkomme? war dem
Vater seine eigene Beschränkung erst recht lebendig, er wünschte zu erfahren, wie weit sich
der Mensch mit seinen Gedanken wagen, und wovon er hoffen dürfe sich und andern
jemals Rechenschaft zu geben."

"Bin ich mit dem Knaben nicht eben auf dem Wege, auf dem ich mit Mignons war? ich zog das liebe
Kind an, seine Gegenwart ergötzte mich, und dabei habe ich es aufs grausamste vernachlässigt.
Was tat ich zu seiner Bildung, nach der es so sehr strebte? nichts! Ich überließ es sich
selbst und allen Zufälligkeiten, denen es, in einer ungebildeten Gesellschaft, nur
ausgesetzt sein konnte; und dann für diesen Knaben, der dir so merkwürdig war, ehe er
dir so wert sein konnte, hat dich denn dein Herz geheißen auch nur jemals das geringste
für ihn zu tun? Es ist nicht mehr Zeit, daß du deine eigenen Jahre und die Jahre anderer
vergeudest; nimm dich zusammen, und denke was du für dich und die guten Geschöpfe
zu tun hast, welche Natur und Neigung so fest an dich knüpfte."

[Wilhelm + Jarno]
"Endlich entschloß er sich die Rolle seiner Lehrjahre aus dem Turme von Jarno zu verlangen;
dieser sagte: es ist eben zur rechten Zeit, und Wilhelm erhielt sie.
Es ist eine schauderhafte Empfindung, wenn ein edler Mensch, mit Bewußtsein, auf dem Punkte
steht, wo er über sich selbst aufgeklärt werden soll. Alle Übergänge sind Krisen, und
ist eine Krise nicht Krankheit? Wie ungern tritt man nach einer Krankheit vor den Spiegel!
Die Besserung fühlt man, und man sieht nur die Wirkung des vergangenen Übels.
Wilhelm war indessen vorbereitet genug, die Umstände hatten schon lebhaft zu ihm gesprochen,
seine Freunde hatten ihn eben nicht geschont, und wenn er gleich das Pergament mit
einiger Hast aufrollte, so ward er doch immer ruhiger, je weiter er las. Er fand
die umständliche Geschichte seines Lebens in großen scharfen Zügen geschildert, weder
einzelne Begebenheiten, noch beschränkte Empfindungen verwirrten seinen Blick, allgemeine
liebevolle Betrachtungen gaben ihm Fingerzeige, ohne ihn zu beschämen, und er sah zum
ersten mal sein Bild außer sich, zwar nicht, wie im Spiegel, ein zweites Selbst, sondern
wie im Portrait, ein anderes Selbst; man bekennt sich zwar nicht zu allen Zügen, aber man
freut sich, daß ein denkender Geist uns so hat fassen, ein großes Talent uns so hat
darstellen wollen, daß ein Bild von dem, was wir waren, noch besteht, und daß es länger
als wir selbst dauren kann."

[Wilhelm, nach Absendung des Ehewerbebriefes an Therese]
"Nur wenig Aufmerksamkeit konnte er auf das wichtige Geschäft verwenden, woran gewissernmaßen
das Schicksal seines ganzen Vermögens hing. Ach! wie unbedeutend erscheint dem Menschen
in leidenschaftlichen Augenblicken alles was ihn umgibt, alles was ihm angehört."

[Wilhelm + Felix, auf dem Wege zu Therese]
"O! rief er aus, wer weiß, was noch für Prüfungen auf mich warten, wer weiß wie sehr mich
begangene Fehler noch quälen, wie oft mir gute und vernünftige Plane für die Zukunft
mißlingen sollen, aber diesen Schatz, den ich einmal besitze, erhalte mir, du erbittliches,
oder unerbittliches Schicksal! wäre es möglich, daß dieser beste Teil von mir selbst vor mir
zerstört, daß dieses Herz von meinem Herzen gerissen werden könnte, so lebe wohl
Verstand und Vernunft, lebe wohl jede Sorgfalt und Vorsicht, verschwinde du Trieb zur
Erhaltung! alles, was uns vom Tier unterscheidet, verliere sich! und wenn es nicht erlaubt ist,
seine traurigen Tage freiwillig zu endigen, so hebe ein frühzeitiger Wahnsinn das
Bewußtsein auf, ehe der Tod, der es auf immer zustört, die lange Nacht herbeiführt.
Er faßte den Knaben in seine Arme, küßte ihn, drückte ihn an sich und benetzte ihn mit
reichlichen Tränen. Das Kind wachte auf; sein helles Auge, sein freundlicher Blick rührten
den Vater aufs innigste."

[Wilhelm - im Schlosse der Gräfin, im Hause des Oheims von Natalie, der schönen Amazone]
"Er trat in das Haus, und fand sich an dem ernsthaftesten, seinem Gefühle nach, dem heiligsten
Orte, den er je betreten hatte. Eine herabhängende blendende Laterne erleuchtete ein breite
sanfte Treppe, die ihm entgegenstand, und sich oben beim Umwenden in zwei Teile teilte.
Marmorne Statuen und Büsten standen auf den Piedestalen und in Nischen geordnet.
Einige schienen ihm bekannt. Jugendeindrücke verlöschen nicht auch in ihren kleinsten Teilen.
Er erkannte eine Muse, die seinem Großevater gehört hatte, zwar nicht an ihrer Gestslt
und an ihrem Wert, doch an einem restaurierten Arme und an den neueingesetzten Stücken
des Gewandes."

"Den andern Morgen, da noch alles stille und ruhig war, ging er sich im Hause umzusehen.
Es war die reinste, schönste, würdigste Baukunst, die er gesehen hatte. Ist doch wahre
Kunst, rief er aus, wie gute Gesellschaft; sie nötigt uns auf die angenehmste Weise das
Maß zu erkennen, nach dem und zu dem unser Innerstes gebildet ist."

[Wilhelm - Natalie, über ein Portraitbild auf einem Medaillon]
Wilhelm beschaute ein Bild, das über dem Kanapee hing, mit Aufmerksamkeit, er mußte es für das
Bild Nataliens erkennen, so wenig es ihm genug tun wollte.
Natalie trat herein und die Ähnlichkeit schien ganz zu verschwinden. Zu seinem Troste hatte es
ein Ordenskreuz an der Brust, und er sah ein gleiches an der Brust Nataliens."
Ich habe das Portrait hier angesehen, sagte er zu ihr, und mich verwundert, wie ein Maler
zugleich so wahr und so falsch sein kann. Das Bild gleicht Ihnen, im Allgemeinen, recht sehr gut,
und doch sind es weder Ihre Züge noch Ihr Charakter. Es ist zu verwundern, versetzte Natalie, daß
es noch so viel Ähnlichkeit hat; denn es ist gar mein Bild nicht, es ist das Bild einer Tante, die
mir noch in ihrem Alter glich, da ich erst ein Kind war. Es ist gemalt, als sie ohngefähr meine
Jahre hatte, und beim ersten Anblick glaubt jederman mich zu sehen. Sie hätten diese treffliche
Person kennen sollen.
Ich bin ihr so viel schuldig. Eine sehr schwache Gesundheit, vielleicht zu viel Beschäftigung
mit sich selbst, und dabei eine sittliche und religiöse Ängstlichkeit ließen sie das der
Welt nicht sein, was sie unter andern Umständen hätte werden können. Sie war ein Licht,
das nur wenigen Freunden und mir besonders leuchtete.
Wäre es möglich, versetzte Wilhelm, der sich einen Augenblick besonnen hatte, indem nun auf
einmal so vielerlei Umstände ihm zusammentreffend erschienen, wäre es möglich, daß jene
schöne herrliche Seele, deren stille Bekenntnisse auch mir mitgeteilt worden sind, Ihre
Tante sei?
Sie haben das Heft gelesen? fragte Natalie.
Ja! versetzte Wilhelm, mit der größten Teilnahme und nicht ohne Wirkung auf mein ganzes
Leben. Was mir am meisten aus dieser Schrift entgegen leuchtete, war, ich möchte so sagen,
die Reinlichkeit des Daseins, nicht allein ihrer selbst, sondern auch alles dessen, was sie
umgab. Diese Selbständigkeit ihrer Natur und die Unmöglichkeit, etwas in sich aufzunehmen,
was mit der edlen, liebevollen Stimmung nicht harmonisch war.
So sind Sie, versetzte Natalie, billiger, ja ich darf wohl sagen, gerechter gegen diese
schöne Natur, als manche andere, denen man auch dieses Manuskript mitgeteilt hat.
Jeder gebildete Mensch weiß, wie sehr er an sich und andern mit einem gewissen Roheit zu
kämpfen hat, wie viel ihn seine Bildung kostet, und wie sehr er doch in
gewissen Fällen nur an sich selbst denkt und vergißt, was er andern schuldig ist.
Wie oft macht der gute Mensch sich Vorwürfe, daß er nicht zart genug gehandelt habe, und
doch wenn nun eine schöne Natur sich allzu zart, sich allzu gewissenhaft bildet, ja, wenn man
will, sich überbildet, für diese scheint keine Duldung, keine Nachsicht in der Welt zu sein.
Und doch sind die Menschen dieser Art, außer uns, was die Ideale im Innern sind, Vorbilder,
nicht zum Nachahmen, sondern zum Nachstreben."

So finde ich also, rief Wilhelm aus, in Theresens Freundin jene Natalie vor mir, an welcher das
Herz jener köstlichen Verwandten hing, jene Natalie, die von Jugend an so teilnehmend, so
liebevoll und hülfreich war.
Nur aus einem solchen Geschlecht konnte eine solche Natur entstehen! Welch eine Aussicht
eröffnet sich vor mir, da ich auf einmal Ihre Voreltern und den ganzen Kreis, dem Sie
angehören, überschaue.
Ja! versetzte Natalie, Sie könnten in einem gewissen Sinne nicht besser von uns unterrichtet
sein, als durch den Aufsatz unserer Tante; freilich hat ihre Neigung zu mir sie zu viel
Gutes von dem Kinde sagen lassen. Wenn man von einem Kinde redet, spricht man niemals den
Gegenstand, immer nur seine Hoffnungen aus."

"So bin ich denn, rief er aus, in dem Hause des würdigen Oheims! es ist kein Haus, es ist ein
Tempel, und Sie sind die würdige Priesterin, ja der Genius selbst; ich werde mich des
Eindrucks von gestern Abend zeitlebens erinnern, als ich hereintrat, und die alten Kunstbilder
der frühesten Jugend wieder vor mir standen."

"Diesen unsern alten Familienschatz, diese Lebensfreude meines Großvaters finde ich hier,
zwischen so vielen andern würdigen Kunstwerken aufgestellt, und mich, den die Natur zum
Liebling dieses guten alten Mannes gemacht hat, mich Unwürdigen, finde ich nun auch hier!
o Gott! in welchen Verbindungen, in welcher Gesellschaft."

[Wilhelm - Natalie, über ihren Oheim]
"Natalie versetzte; über ihn wäre vieles zu sagen; wovon ich am genauesten unterrichtet bin,
ist der Einfluß den er auf unsere Erziehung gehabt hat.
Er war, wenigstens eine Zeit lang, überzeugt, daß die Erziehung sich nur an die Neigung
anschließen müsse; wie er jetzt denkt, kann ich nicht sagen.
Er behauptete: das erste und letzte am Menschen sei Tätigkeit, und man könne nichts tun,
ohne die Anlage dazu zu haben, ohne den Instinkt, der uns dazu treibe. Man gibt zu,
pflegte er zu sagen, daß Poeten geboren werden werden, man gibt es bei allen Künsten
zu, weil man muß, und weil jene Wirkungen der menschlichen Natur kaum scheinbar nachgeäfft
werden können; aber, wenn man es genau betrachtet, so wird jede auch nur die geringste
Fähigkeit uns angeboren, und es gibt keine unbestimmte Fähigkeit. Nur unsere zweideutige,
zerstreute Erziehung macht die Menschen ungewiß, sie erregt Wünsche statt Triebe zu beleben,
und, anstatt den wirklichen Anlagen aufzuhelfen, richtet sie das Streben nach Gegenständen,
die so oft mit der Natur, die sich nach ihnen bemüht, nicht übereinstimmen.
Ein Kind, ein junger Mensch, die auf ihrem eigenen Wege irre gehen, sind mir lieber als
manche, die auf fremden Wege recht wandeln. Finden jene, entweder durch sich selbst, oder
durch Anleitung, den rechten Weg, das ist den, der ihrer Natur gemäß ist, so werden sie ihn
nie verlassen, an statt daß diese jeden Augenblick in Gefahr sind, ein fremdes Joch
abzuschütteln, und sich einer unbedingten Freiheit zu übergeben.
Es ist sonderbar, sagte Wilhelm, daß dieser merkwürdige Mann auch an mir Teil genommen,
und mich, wie es scheint, nach seiner Weise, wo nicht geleitet, doch wenigstens eine Zeit
lang in meinen Irrtümern gestärkt hat."

[Wilhelm - Natalie]
"Der Gang Ihres Lebens sagte Wilhelm einmal zu ihr, ist wohl immer sehr gleich gewesen?
denn die Schilderung, die Ihre Tante von Ihnen als Kind macht, scheint, wenn ich nicht irre,
noch immer zu passen. Sie haben sich, man fühlt es Ihnen wohl an, nie verwirrt. Sie waren nie
genötigt einen Schritt zurück zu tun.
Das bin ich meinem Oheim und dem Abbè schuldig, versetzte Natalie, die meine Eigenheiten
so gut zu beurteilen wußten.
Ich erinnere mich von Jugend an kaum eines Eindrucks als des lebhaftesten, daß ich überall
die Bedürfnisse der Menschen sah, und ein unüberwindliches Verlangen empfand sie auszugleichen.
Das Kind, das noch nicht auf seinen Füßen stehen konnte, der Alte, der sich nicht mehr
auf den seinigen erhielt, das Verlangen einer reichen Familie nach Kindern, die Unfähigkeit
einer armen die ihrigen zu erhalten, jedes stille Verlangen nach einem Gewerbe, den Trieb
zu einem Talente, die Anlagen zu hundert kleinen notwendigen Fähigkeiten, diese überall
zu entdecken, schien mein Auge von der Natur bestimmt. Ich sah, worauf mich niemand aufmerksam
gemacht hatte, ich schien aber auch nur geboren, um das zu sehen. Die Reize der leblosen
Natur, für die so viele Menschen äußerst empfänglich sind, hatten keine Wirkung auf mich,
beinah noch weniger die Reize der Kunst, meine angenehmste Empfindung war und ist es noch,
wenn sich mir ein Mangel, ein Bedürfnis in der Welt darstellte, sogleich im Geiste einen
Ersatz, ein Mittel, eine Hülfe aufzufinden.
Sah ich einen Armen in Lumpen, so fielen mir die überflüssigen Kleider ein, die ich in den
Schränken der Meinigen hatte hängen sehen; sah ich Kinder, die sich ohne Sorgfalt und ohne
Pflege verzehrten, so erinnerte ich mich dieser oder jener Frau, der ich, bei Reichtum und
Bequemlichkeit, Langeweile abgemerkt hatte; sah ich viele Menschen in in einem engen Raum
eingesperrt, so dachte ich sie müßten in die großen Zimmer mancher Häuser und Paläste
einquartiert werden. Diese Art zu sehen war bei mir ganz natürlich, ohne die mindeste
Reflexion, so daß ich darüber, als Kind, das wunderlichste Zeug von der Welt machte,
und mehr als einmal, durch die sonderbarsten Anträge, die Menschen in Verlegenheit setzte.
Noch eine Eigenheit war es, daß ich das Geld nur mit Mühe, und spät, als ein Mittel
die Bedürfnisses zu befriedigen, ansehen konnte, alle meine Wohltaten bestanden in Naturalien,
und ich weiß daß oft genug über mich gelacht worden ist. Nur der Abbè schien mich
zu verstehen, er kam mir überall entgegen, er machte mich mit mir selbst, mit diesen
Wünschen und Neigungen bekannt, und lehrte mich, sie zweckmäßig befriedigen.
Haben Sie denn, fragte Wilhelm, bei der Erziehung Ihrer kleinen weiblichen Welt, auch die
Grundsätze jener sonderbaren Männer angenommen? lassen Sie denn auch jede Natur sich selbst
ausbilden? lassen Sie denn auch die Ihrigen suchen und irren, Mißgriffe tun, sich glücklich am
Ziel finden, oder unglücklich in die Irre verlieren?
Nein! sagte Natalie, diese Art mit Menschen zu handeln würde ganz gegen meine Gesinnung sein.
Wer nicht im Augenblick hilft, scheint mir nie zu helfen, wer nicht im Augenblicke Rat gibt,
nie zu raten. Eben so nötig scheint es mir gewisse Gesetze auszusprechen, und den Kindern
einzuschärfen, die dem Leben einen gewissen Halt geben. Ja, ich möchte beinah behaupten:
es sei besser nach Regeln zu irren, als zu irren, wenn uns die Willkür unserer Natur
hin und her treibt, und wie ich die Menschen sehe, scheint mir in ihrer Natur immer eine
Lücke zu bleiben, die nur durch ein entschieden ausgesprochenes Gesetz ausgefüllt werden
kann.
So ist also Ihre Handelsweise, sagte Wilhelm, völlig von jener verschieden, welche unsere
Freunde beobachten.
Ja! versetzte Natalie, Sie können aber hieraus die unglaubliche Toleranz jener Männer sehen,
daß sie eben auch mich, auf meinem Wege, gerade deswegen, weil es mein Weg ist, keineswegs
stören, sondern mir in allem, was ich nur wünschen kann, entgegenkommen."

[Wilhelm - Natalie, über ihre Schwester, die Gräfin]
"Eben so wenig konnte er mit Freiheit des Geistes die Unterredung verfolgen, wenn seine
edle Freundin von ihrer Schwester sprach, ihre guten Eigenschaften rühmte und ihren Zustand
bedauerte. Er war nicht wenig verlegen, als Natalie ihm ankündigte, daß er die Gräfin
bald hier sehen werde. Ihr Gemahl, sagt sie, hat nun keinen andern Sinn, als den abgeschiedenen
Grafen in der Gemeinde zu ersetzen, durch Einsicht und Tätigkeit diese große Anstalt
zu unterstützen und weiter aufzubauen, er kommt mit ihr zu uns, um eine Art von Abschied
zu nehmen, er wird nachher die verschiedenen Orte besuchen, wo die Gemeinde sich niedergelassen
hat, man scheint ihn nach seinen Wünschen zu behandeln, und fast glaub ich, er wagt mit meiner
armen Schwester eine Reise nach Amerika, um ja seinem Vorgänger recht ähnlich zu werden, [...]."

[Wilhelm - Therese]
"Da uns keine Leidenschaft, sondern Neigung und Zutrauen zusammenführt, so wagen wir weniger als
tausend andere."

[Therese, ein Briefauszug an Natalie über Wilhelm]
"Wenn ich hoffe, daß wir zusammen passen werden, so gründe ich meinen Ausspruch vorzüglich
darauf, daß er Dir, liebe Natalie, die ich so unendlich schätze und verehre, daß er Dir
ähnlich ist. Ja er hat von Dir das edle Suchen und Streben nach dem Bessern, wodurch wir
das Gute, das wir zu finden glauben, selbst hervorbringen. Wie oft habe ich Dich nicht im
Stillen getadelt, daß Du diesen oder jenen Menschen anders behandelst, daß Du in diesem
oder jenem Fall Dich anders betrugst, als ich würde getan haben, und doch zeigte der Ausgang
meist, daß Du Recht hattest.
Wenn wir, sagtest Du, die Menschen nur nehmen wie sie sind, so machen wir sie schlechter;
wenn wir sie behandeln, als wären sie was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin
sie zu bringen sind. Ich kann weder so sehen noch handeln, das weiß ich recht gut.
Einsicht, Ordnung, Zucht, Befehl, das ist meine Sache. Ich erinnere mich noch wohl, was Jarno
sagte: Therese dressiert ihre Zöglinge, Natalie bildet sie. Ja er ging so weit, daß er
mir einst die drei schönen Eigenschaften Glaube, Liebe und Hoffnung völlig absprach.
Statt des Glaubens, sagte er, hat sie die Einsicht, statt der Liebe, die Beharrlichkeit
und statt der Hoffnung das Zutrauen. Auch will ich Dir gerne gestehen, ehe ich Dich kannte,
kannte ich nichts Höheres in der Welt als Klarheit und Klugheit, nur Deine Gegenwart hat
mich überzeugt, belebt, überwunden, und Deiner schönen hohen Seele tret ich gerne den Rang
ab. Auch meinen Freund verehre ich in eben demselben Sinn, seine Lebensbeschreibung ist ein
ewiges Suchen und nicht finden; aber nicht das leere Suchen, sondern das wunderbare, gutmütige
Suchen begabt ihn, er wähnt man können ihm das geben, was nur von ihm kommen kann."

[Wilhelm - Natalie, über ihren Oheim]
"Wenn ich nicht, pflegte er oft zu sagen, mir von Jugend auf so sehr widerstanden hätte, wenn
ich nicht gestrebt hätte, meinen Verstand ins Weite und Allgemeine auszubilden, so wäre ich
der beschränkteste und unerträglichste Mensch geworden, denn nichts ist unerträglicher, als
abgeschnittene Eigenheit an demjenigen, von dem man eine reine, gehörige Tätigkeit fordern
kann. Und doch mußte er selbst gestehen, daß ihm gleichsam Leben und Atem ausgehen würde,
wenn er sich nicht von Zeit zu Zeit nachsähe, und sich erlaubte, das mit Leidenschaft zu
genießen, was er eben nicht immer loben und entschuldigen konnte. Es ist meine Schuld nicht,
sagte er, wenn ich meine Triebe und meine Vernunft nicht völlig habe in Einstimmung bringen
können. Bei solchen Gelegenheiten pflegte er meist über mich zu scherzen und zu sagen:
Natalie kann man bei Liebesleben selig preisen, da ihre Natur nichts fordert, als was die
Welt wünscht und braucht."

[Wilhelm - Natalie im Saal der Vergangenheit des Schlosses]
"Alle diese Pracht und Zierde stellte sich in reinen architektonischen Verhältnissen dar,
und so schien jeder, der hineintrat, über sich selbst erhoben zu sein, indem er durch
die zusammentreffende Kunst, erst erfuhr, was der Mensch sei und was er sein könne."

"Wilhelm konnte sich nicht genug der Gegenstände freuen, die ihn umgaben. Welch ein Leben,
rief er aus, in diesem Saale der Vergangenheit! man könnte ihn eben so gut den Saal der
Gegenwart und der Zukunft nennen. So war alles und so wird alles sein! Nichts ist vergänglich,
als der Eine der genießt und zuschaut. Hier dieses Bild der Mutter, die ihr Kind ans Herz
drückt, wird viele Generationen glücklicher Mütter überleben, nach Jahrhunderten vielleicht
erfreut sich ein Vater dieses bärtigen Mannes, der seinen Ernst ablegt, und sich mit seinem
Sohne neckt. So verschämt wird durch alle Zeiten die Braut sitzen, und bei ihren stillen
Wünschen noch bedürfen, daß man sie tröste, daß man ihr zurede; so ungeduldig wird der
Bräutigam auf der Schwelle horchen, ob er hereintreten darf.
Wilhelms Augen schweiften auf unzählige Bilder umher. Vom ersten frohen Triebe der Kindheit
jedes Glied im Spiele nur zu brauchen und zu üben, bis zum ruhigen abgeschiedenen Ernste
des Weisen, konnte man, in schöner lebendigen Folge, sehen wie der Mensch keine angeborne
Neigung und Fähigkeit besitzt, ohne sie zu brauchen und zu nutzen.
Von dem ersten zarten Selbstgefühl, wenn das Mädchen verweilt den Krug aus dem klaren
Wasser wieder herauf zu heben, und indessen ihr Bild gefällig betrachtet, bis zu jenen
hohen Feierlichkeiten, wenn Könige und Völker zu Zeugen ihrer Verbindungen die Götter
am Altare anrufen, zeigte sich alles bedeutend und kräftig.
Es war eine Welt, es war ein Himmel, der den Beschauenden an dieser Stätte umgab, und außer
den Gedanken, welche jene gebildeten Gestalten erregten, außer den Empfindungen, welche
sie einflößten, schien noch etwas anders gegenwärtig zu sein, wovon der ganze Mensch
sich angegriffen fühlte. Auch Wilhelm bemerkte es, ohne sich davon Rechenschaft geben zu
können. Was ist das? rief er aus, das, unabhängig von aller Bedeutung, frei von allem Mitgefühl,
das uns menschliche Begebenheiten und Schicksale einflößen, so stark und zugleich so anmutig
auf mich zu wirken vermag? Es spricht aus dem Ganzen, es spricht aus jedem Teile mich an,
ohne daß ich jenes begreifen, ohne daß ich diese mir besonders zueignen könnte! Welchen
Zauber ahnd' ich in diesen Flächen, diesen Linien, diesen Höhen und Breiten, diesen Massen
und Farben! Was ist es, das diese Figuren, auch nur obenhin betrachtet, schon als Zierrat
so erfreulich macht! Ja ich fühle, man könnte hier verweilen, ruhen, alles mit den Augen
fassen, sich glücklich finden und ganz etwas anders fühlen und denken, als das, was vor Augen
steht."

"Als sie im Begriff waren wegzugehn, sagte Natalie: ich muß Sie noch auf etwas aufmerksam machen.
Bemerken Sie diese halbrunden Öffnungen in der Höhe auf beiden Seiten! hier können die Chöre
der Sänger verborgen stehen, und diese ehrenen Zierraten unter dem Gesimse dienen die Teppiche
zu befestigen, die nach der Verordnung meines Oheims bei jeder Bestattung aufgehängt werden sollen.
Er konnte nicht ohne Musik, besonders nicht ohne Gesang leben, und hatte dabei die Eigenheit,
daß er die Sänger nicht sehen wollte. Er pflegte zu sagen: das Theater verwöhnt uns gar zu sehr,
die Musik dient dort nur gleichsam dem Auge, sie begleitet die Bewegungen, nicht die Empfindungen,
bei Oratorien und Konzerten stört uns immer die Gestalt des Musikus, die wahre Musik ist allein
fürs Ohr, eine schöne Stimme ist das Allgemeinste was sich denken laßt, und indem das eingeschränkte
Individuum, das sie hervorbringt, sich vors Auge stellt, zerstört es den reinen Effekt jener
Allgemeinheit. Ich will jeden sehen, mit dem ich reden soll, denn es ist ein einzelner Mensch,
dessen Gestalt und Charakter die Rede wert oder unwert macht, hingegen wer mir singt, soll
unsichtbar sein, seine Gestalt soll mich nicht bestechen oder irre machen. Hier spricht nur
ein Organ zum Organe, nicht der Geist zum Geiste, nicht eine tausendfältige Welt zum Auge,
nicht ein Himmel zum Menschen. Eben so wollte er auch bei Instrumentalmusiken die Orchester
so viel als möglich versteckt haben, weil man durch die mechanischen Bemühungen und durch die
notdürftigen, immer seltsamen Gebärden der Instrumentenspieler so sehr zerstreut und verwirrt
werde. Er pflegte daher eine Musik nicht anders als mit zugeschlossenen Augen anzuhören, um sein
ganzes Dasein auf den einzigen, reinen Genuß des Ohrs zu konzentrieren."

[Wilhelm - Jarno, über den Lehrbrief]
"Haben Sie das Pergament nicht bei der Hand? fragte Jarno, es enthält viel Gutes; denn jene allgemeinen
Sprüche sind nicht aus der Luft gegriffen, freilich scheinen sie demjenigen leer und dunkel, der
sich keiner Erfahrung dabei erinnert. Geben Sie mir den sogenannten Lehrbrief doch, wenn er in
der Nähe ist. - Gewiß ganz nah, versetzte Wilhelm, so ein Amulett sollte man immer auf der Brust
tragen. - Nun, sagte Jarno lächelnd: wer weiß ob der Inhalt nicht einmal in Ihrem Kopf und Herzen
Platz findet.
Jarno blickte hinein, und überlief die erste Hälfte mit den Augen. Diese, sagte er, bezieht sich
auf die Ausbildung des Kunstsinnes, wovon andere sprechen mögen, die zweite handelt von Leben,
und da bin ich besser zu Hause.
Er fing darauf an Stellen zu lesen, sprach dazwischen und knüpfte Anmerkungen und Erzählungen
mit ein: Die Neigung der Jugend zum Geheimnis, zu Zeremonien und großen Worten ist außerordentlich,
und oft ein Zeichen einer gewissen Tiefe des Charakters. Man will in diesen Jahren sein ganzes
Wesen, wenn auch nur dunkel und unbestimmt, ergriffen und berührt fühlen. Der Jüngling, der vieles
ahnet, glaubt in einem Geheimnisse viel zu finden, in ein Geheimnis viel legen und durch dasselbe
wirken zu müssen. In diesen Gesinnungen bestärkte der Abbè eine junge Gesellschaft, teils
nach seinen Grundsätzen, teils aus Neigung und Gewohnheit, da er wohl ehemals mit einer
Gesellschaft in Verbindung stand, die selbst viel im Verborgenen gewirkt haben mochte.
Ich konnte mich am wenigsten in dieses Wesen finden. Ich war älter als die andern, ich
hatte von Jugend auf klar gesehen, und wünschte in allen Dingen nichts als Klarheit, ich hatte
kein ander Interesse, als die Welt zu kennen wie sie war, und steckte mit dieser Liebhaberei
die übrigen besten Gefährten an, und fast hätte darüber unsere ganze Bildung eine falsche
Richtung genommen; denn wir fingen an nur die Fehler der andern und ihre Beschränkung zu sehen,
und uns selbst für treffliche Wesen zu halten. Der Abbè kam uns zur Hülfe und lehrte uns: daß man
die Menschen nicht beobachten müsse, ohne sich für ihre Bildung zu interessieren, und daß man
sich selbst eigentlich nur in der Tätigkeit zu beobachten und zu erlauschen im Stande sei.
Er riet uns jene erste Formen der Gesellschaft beizubehalten, es blieb daher etwas gesetzliches
in unsern Zusammenkünften, man sah wohl die ersten mystischen Eindrücke auf die Einrichtung
des Ganzen, nachher nahm es, wie durch ein Gleichnis, die Gestalt eines Handwerks, das sich bis zur
Kunst erhob, an. Daher kamen die Benennungen von Lehrlingen, Gehülfen und Meistern.
Wir wollten mit eignen Augen sehen, und uns ein eigenes Archiv unserer Weltkenntnis bilden,
daher entstanden die vielen Konfessionen, die wir teils selbst schrieben, teils wozu wir
andere veranlaßten, und aus denen nachher die Lehrjahre zusammengesetzt wurden: Nicht allen
Menschen ist es eigentlich um ihre Bildung zu tun, viele wünschen nur so ein Hausmittel zum
Wohlbefinden, Rezepte zum Reichtum und zu jeder Art von Glückseligkeit. Alle diese, die
nicht auf ihre Füße gestellt sein wollten, wurden mit Mystifikationen und anderm Hokus
Pokus teils aufgehalten, teils bei Seite gebracht. Wir sprachen nur nach unserer Art diejenigen los,
die lebhaft fühlten und deutlich bekannten, wozu sie geboren seien, und die sich genug
geübt hatten, um, mit einer gewissen Fröhlichkeit und Leichtigkeit, ihren Weg zu verfolgen."

"Derjenige, an dem viel zu entwickeln ist, wird später über sich und die Welt aufgeklärt.
Es sind nur wenige, die den Sinn haben und zugleich zur Tat fähig sind. Der Sinn erweitert,
aber lähmt, die Tat belebt, aber beschränkt"

"Was ist denn da zu schonen, versetzte Jarno, wenn ein junger Mensch, von mancherlei guten
Anlagen, eine ganz falsche Richtung nimmt? -
Verzeihen Sie, sagte Wilhelm, Sie haben mir streng genug alle Fähigkeit zum Schauspieler
abgesprochen; ich gestehe Ihnen, daß, ob ich gleich dieser Kunst ganz entsagt habe, so
kann ich mich bei mir selbst doch dazu nicht für ganz unfähig erklären. -
Und bei mir, sagte Jarno, ist es doch so rein entschieden: daß wer sich nur selbst
spielen kann, kein Schauspieler ist.
Wer sich nicht dem Sinn und der Gestalt nach in viele Gestalten verwandeln kann, verdient nicht
diesen Namen. So haben Sie, zum Beispiel, den Hamlet und einige andere Rollen recht gut gespielt,
bei denen Ihnen Ihr Charakter, Ihre Gestalt und die Stimmung des Augenblicks zu gute kamen.
Das wäre nun für ein Liebhabertheater und für einen jeden gut genug, der keinen andern Weg
vor sich sähe. Man soll sich, fuhr Jarno fort, indem er auf die Rolle sah, vor einem Talente
hüten, das man in Vollkommenheit auszuüben nicht Hoffnung hat. Man mag es darin so weit
bringen, als man will, so wird man doch immer zuletzt, wenn uns einmal das Verdienst des
Meisters klar wird, den Verlust von Zeit und Kräften, die man auf eine solche Pfuscherei
gewendet hat, schmerzlich bedauren."

[Wilhelm - Jarno, über den Abbè]
"Was ihn uns so schätzbar macht, versetzte Jarno, was ihm gewissermaßen die Herrschaft über uns
alle erhält, ist der freie und scharfe Blick, den ihm die Natur über alle Kräfte, die
im Menschen nur wohnen, und wovon sich jede in ihrer Art ausbilden läßt, gegeben hat.
Die meisten Menschen, selbst die vorzüglichen, sind nur beschränkt, jeder schätzt gewisse
Eigenschaften an sich und andern, nur die begünstigt er, nur die will er ausgebildet wissen:
Ganz entgegengesetzt wirkt der Abbè, er hat Sinn für alles, Lust an allem, es zu erkennen und
zu befördern. Da muß ich doch wieder in die Rolle sehen! fuhr Jarno fort: Nur alle
Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt.
Diese sind unter sich oft im Widerstreit, und indem sie sich zu zerstören suchen, hält sie
die Natur zusammen, und bringt sie wieder hervor. Von dem geringsten tierischen
Handwerksbetriebe, bis zur höchsten Ausübung der geistigsten Kunst, vom Lallen und Jauchzen
des Kindes, bis zur trefflichsten Äußerung des Redners und Sängers, vom ersten Balgen
der Knaben bis zu den ungeheuren Anstalten, wodurch Länder erhalten und erobert werden,
vom leichtesten Wohlwollen und der flüchtigsten Liebe, bis zur heftigsten Leidenschaft und
zum ernstesten Bunde, von dem reinsten Gefühl der sinnlichen Gegenwart bis zu den leisesten
Ahndungen und Hoffnungen der entferntesten geistigen Zukunft, alles das und weit mehr
liegt im Menschen, und muß ausgebildet werden; aber nicht in Einem, sondern in vielen.
Jede Anlage ist wichtig, und sie muß entwickelt werden.
Wenn einer nur das Schöne, der andere nur das Nützliche befördert, so machen beide zusammen
erst einen Menschen aus. Das Nützlich befördert sich selbst, denn die Menge bringt es
hervor, und alle könnens nicht entbehren; das Schöne muß befördert werden, denn wenige
stellens dar, und viele bedürfens.
Halten Sie inne, rief Wilhelm, ich habe das alles gelesen. -
Nur noch einige Zeilen, versetzte Jarno, hier find ich den Abbè ganz wieder:
Eine Kraft beherrscht die andere, aber keine kann die andere bilden; in jeder Anlage liegt
auch allein die Kraft sich zu vollenden; das verstehen so wenig Menschen, die doch
lehren und wirken wollen."

[Wilhelm - Jarno]
"Der Mensch ist nicht glücklich, als bis sein unbedingtes Streben sich selbst seine Begrenzung
bestimmt."

[Wilhelm - Friedrich - andere]
"Nachdem er rings herum alles bewillkommt und geküßt hatte, sprang er wieder auf Wilhelmen
los, und rief: Haltet mir ihn ja warm diesen Helden, Heerführer und dramatischen Philosophen.
Ich habe ihn bei unsrer ersten Bekanntschaft schlecht, ja ich darf wohl sagen, mit der Hechel
frisiert, und er hat mir doch nachher eine tüchtige Tracht Schläge erspart. Er ist großmütig
wie Scipio, feigebig wie Alexander, gelegentlich auch verliebt, doch ohne seine Nebenbuhler
zu hassen."

[Wilhelm - Jarno]
"Ich habe keinen deutlichen Begriff von den Welthändeln, fiel Wilhelm ein, und habe mich erst
vor kurzen um meine Besitztümer bekümmert. Vielleicht hätte ich wohl getan, sie mir noch
länger aus dem Sinne zu schlagen, da ich bemerken muß, daß die Sorge für ihre Erhaltung so
hypochondrisch macht.
Hören Sie mich aus, sagte Jarno, die Sorge geziemt dem Alter, damit die Jugend eine Zeit
lang sorglos sein könne. Das Gleichgewicht in den menschlichen Handlungen kann leider nur durch
Gegensätze hergestellt werden. Es ist gegenwärtig nichts weniger als rätlich, nur an Einem Ort
zu besitzen, nur Einem Platze sein Geld anzuvertrauen, und es ist wieder schwer an vielen
Orten Aufsicht darüber zu führen; wir haben uns deswegen etwas anders ausgedacht, aus unserm
alten Turm soll eine Sozietät ausgehen, die sich in alle Teile der Welt ausbreiten, in die man
aus jedem Teile der Welt eintreten kann.
Wir assekurieren uns unter einander unsere Existenz, auf den einzigen Fall, daß eine Staats-
revolution den einen oder den andern von seinen Besitztümern völlig vertriebe. Ich gehe nun
hinüber nach Amerika, um die guten Verhältnisse zu benutzen, die sich unser Freund bei seinem
dortigen Aufenthalt gemacht hat."

[Wilhelm - andere - Natalie - der Abbè, mit einem Brief des Markese]
"Der Markese, der Freund Ihres verstorbenen Oheims, den wir seit einiger Zeit erwarten, muß
in diesen Tagen hier sein. Er schreibt mir, daß ihm doch die deutsche Sprache nicht so
geläufig sei, als er geglaubt, daß er eines Gesellschafters bedürfe, der sie vollkommen
nebst einigen andern besitze; da er mehr wünsche in wissenschaftliche als politische
Verbindungen zu treten, so sei ihm ein solcher Dolmetscher unentbehrlich. Ich wüßte
niemand geschickter dazu als unsern jungen Freund. Er kennt die Sprache, ist sonst in
vielem unterrichtet, und es wird für ihn selbst ein großer Vorteil sein, in so guter
Gesellschaft und unter so vorteilhaften Umständen Deutschland zu sehen. Wer sein
Vaterland nicht kennt, hat keinen Maßstab für fremde Länder."

"Dazu bin ich jetzt nicht gefaßt, antwortete Wilhelm. Wir können die Ankunft des Mannes
abwarten, und dann sehen, ob wir zusammen passen.
Eine Hauptbedingung aber muß zum Voraus eingehen, daß ich meinen felix mitnehmen, und ihn
überalle mit hinführen darf.
Diese Bedingung wird schwerlich zugestanden werden, versetzte der Abbè.
Und ich sehe nicht, rief Wilhelm aus, warum ich mir von irgend einem Menschen sollte
Bedingungen vorschreiben lassen? und warum ich, wenn ich einmal mein Vaterland sehen will,
einen Italiener zur Gesellschaft brauche?
Weil ein junger Mensch, versetzte der Abbè, mit einem gewissen imponierenden Ernste,
immer Ursache hat sich anzuschließen.
Wilhelm, der wohl merkte, daß er länger an sich zu halten nicht im Stande sei, da sein
Zustand nur durch die Gegenwart Nataliens noch einigermaßen gelindert ward, ließ sich
hierauf mit einiger Hast vernehmen: man vergönne mir nur noch kurze Bedenkzeit, und ich vermute
es wird sich geschwinde entscheiden, ob ich Ursache habe mich weiter anzuschließen, oder
ob nicht vielmehr Herz und Klugheit mir unwiderstehlich gebieten, mich von so mancherlei
Banden loszureißen, die mir eine ewige, elende Gefangenschaft drohen."

[Wilhelm]
"Was das Äußere betraf, hätte er nun immer abreisen können, allein sein Gemüt war noch durch
zwei Hindernisse gebunden.
Man wollte ihm ein für allemal Mignons Körper nicht zeigen, als bei den Exequien, welche der
Abbè zu halten gedachte. Auch war der Arzt, durch einen sonderlichen Brief des Landes-
geistlichen, abgerufen worden. Es betraf den Harfenspieler, von dessen Schicksalen Wilhelm
näher unterrichtet sein wollte.
In diesem Zustande fand er weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe der Seele oder des Körpers. Wenn
alles schlief, ging er in dem Hause hin und her. Die Gegenwart der alten bekannten
Kunstwerke zog ihn an, und stieß ihn ab. Er konnte nichts, was ihn umgab, weder ergreifen
noch lassen, alles erinnerte ihn an alles, er übersah den ganzen Ring seines Lebens, nur
lag er leider zerbrochen vor ihm, und schien sich auf ewig nicht schließen zu wollen.
Diese Kunstwerke, die sein Vater verkauft hatte, schienen ihm ein Symbol, daß auch er von
einem ruhigen und gründlichen Besitz des wünschenswerten in der Welt teils ausgeschlossen,
teils desselben durch eigne oder fremde Schuld beraubt werden sollte.
Er verlor sich so weit in diesen sonderbaren und traurigen Betrachtungen, daß er sich
selbst manchmal wie ein Geist vorkam, und selbst wenn er die Dinge außer sich befühlte
und betastete, sich kaum des Zweifels erwehren konnte, ob er denn auch wirklich lebe und
da sei.
Nur der lebhafte Schmerz, der ihn manchmal ergriff, daß er alles das Gefundene und
Wiedergefundene so freventlich und doch so notwendig verlassen müsse, nur seine Tränen
gaben ihm das Gefühl seines Daseins wieder, vergebens rief er sich den glücklichen
Zustand, in dem er sich doch eigentlich befand, vors Gedächtnis.
So ist denn alles nichts! rief er aus, wenn das Eine fehlt, das dem Menschen alles
übrige wert ist.
Der Abbè verkündete der Gesellschaft die Ankunft des Markeses."

[Wilhelm - andere - der Markese]
"Der Italiener hat überhaupt ein tieferes Gefühl für die hohe Würde der Kunst als andere
Nationen; jeder, der nur irgend etwas treibt, will Künstler, Meister und Professor heißen,
und bekennt wenigstens durch diese Titelsucht, daß es nicht genug sei nur etwas durch
Überlieferung zu erhaschen, oder durch Übung irgend eine Gewandtheit zu erlangen;
er gesteht, daß jeder vielmehr über das, was er tut, auch fähig sein solle zu denken,
Grundsätze aufzustellen, und die Ursachen, warum dieses oder jene zu tun sei, sich
selbst und andern deutlich zu machen."

"Bei der Betrachtung, daß vortreffliche Kunstwerke in der neuern Zeit so selten seien,
sagte der Markese: es läßt sich nicht leicht denken und übersehen, was die Umstände für
den Künstler tun müssen, und dann sind bei dem größten Genie, bei dem entschiedensten
Talente noch immer die Forderungen unendlich, die er an sich selbst zu machen hat,
unsäglich der Fleiß, der zu seiner Ausbildung nötig ist.
Wenn nun die Umstände wenig für ihn tun, wenn er bemerkt, daß die Welt sehr leicht zu
befriedigen ist, und selbst nur einen leichten, gefälligen, behaglichen Schein begehrt;
so wäre es zu verwundern, wenn nicht Bequemlichkeit und Eigenliebe ihn bei dem Mittel-
mäßigen fest hielten, es wäre seltsam, wenn er nicht lieber für Modewaren Geld und Lob
eintauschen, als den rechten Weg wählen sollte, der ihn mehr oder weniger zu einem
kümmerlichen Märtyrertum führt. Deswegen bieten die Künstler unserer Zeit nur immer an,
um niemals zu geben. Sie wollen immer reizen, um niemals zu befriedigen; alles ist nur
angedeutet, und man findet nirgends Grund noch Ausführung.
Man darf aber auch nur eine Zeit lang ruhig in einer Galerie verweilen, und beobachten,
nach welchen Kunstwerken sich die Menge zieht, welche gepriesen und welche vernachlässigt
werden, so hat man wenig Lust an der Gegenwart, und für die Zukunft wenig Hoffnung.
Ja, versetzte der Abbè, und so bilden sich Liebhaber und Künstler wechselsweise;
der Liebhaber sucht nur einen allgemeinen unbestimmten Genuß, das Kunstwerk soll ihm
ohngefähr wie ein Naturwerk behagen, und die Menschen glauben, die Organe, ein Kunstwerk
zu genießen, bildeten sich eben so von selbst aus, wie die Zunge und der Gaum, man urteilt
über ein Kunstwerk, wie über eine Speise, und man begreift nicht, was für einer
andern Kultur es bedarf, um sich zum wahren Kunstgenusse zu erheben.
Das schwerste finde ich die Art von Absonderung, die der Mensch in sich selbst bewirken
muß, wenn er sich überhaupt bilden will, deswegen finden wir so viel einseitige Kulturen,
wovon doch jede sich anmaßt über das Ganze abzusprechen."
Was Sie das sagen, ist mir nicht ganz deutlich, sagte Jarno, der eben hinzutrat.
Auch ist es schwer, versetzte der Abbè, sich in der Kürze bestimmt hierüber zu erklären.
Ich sage nur so viel: sobald der Mensch an mannigfaltige Tätigkeit oder mannigfaltigen
Genuß Anspruch macht, so muß er auch fähig sein mannigfaltige Organe an sich gleichsam
unabhängig von einander auszubilden. Wer alles und jedes in seiner ganzen Menschheit tun
oder genießen will, wer alles außer sich zu einer solchen Art von Genuß verknüpfen will,
der wird seine Zeit nur mit einem unbefriedigten Streben hinbringen.
Wie schwer ist es, was so natürlich scheint, eine gute Statue, ein treffliches Gemälde
an und für sich zu beschauen, den Gesang um des Gesangs willen zu vernehmen, den
Schauspieler im Schauspieler zu bewundern, sich eines Gebäudes um seiner eigenen Harmonie
und seiner Dauer willen zu erfreuen. Nun sieht man aber meist nur die Menschen die
entscheidensten Werke der Kunst gerade zu behandeln, als wenn es weicher Ton wäre.
Nach ihren Neigungen, Meinungen und Grillen soll sich der gebildete Marmor sogleich
wieder ummodeln, das festgemauerte Gebäude sich ausdehnen oder zusammenziehen, ein
Gemälde soll lehren, ein Schauspiel bessern und alles soll alles werden.
Eigentlich aber weil die meisten Menschen selbst formlos sind, weil sie sich und ihrem
Wesen selbst keine Gestalt geben können, so arbeiten sie den Gegenständen ihre Gestalt zu
nehmen, damit ja alles loser und lockrer Stoff werde, wozu sie auch gehören.
Alles reduzieren sie zuletzt auf den sogenannten Effekt, alles ist relativ, und so
wird auch alles relativ, außer dem Unsinn und der Abgeschmacktheit, die denn auch
ganz absolut regiert.
Ich verstehe Sie, versetzte Jarno, oder vielmehr ich sehe wohl ein, wie das, was Sie sagen,
mit den Grundsätzen zusammenhängt, an denen Sie so fest halten; ich kann es aber mit den
armen Teufeln von Menschen unmöglich so genau nehmen. Ich kenne freilich ihrer genug,
die sich bei den größten Werken der Kunst und der Natur sogleich ihres armseligsten
Bedürfnisses erinnern, ihr Gewissen und ihre Moral mit in die Oper nehmen, ihre Liebe und
Haß vor einem Säulengange nicht ablegen, und das Beste und Größte, was ihnen von außen
gebracht werden kann, in ihrer Vorstellungsart erst möglichst verkleinern müssen,
um es mit ihrem kümmerlichen Wesen nur einigermaßen verbinden zu können."

[Im Saal der Vergangenheit - die Gesellschaft, Exequien Mignons]
- Chor
"Schaut mit den Augen des Geistes hinan! in euch lebe die bildende Kraft, die das Schönste,
das Höchste hinauf über die Sterne das Leben trägt."

- Chor
"Kinder kehret ins Leben zurück! Eure Tränen trockne die frische Luft, die um das schlängelnde
Wasser spielt. Entflieht der Nacht! Tag und Lust und Dauer ist das Los der Lebendigen."
- Knaben
"Auf, wir kehren ins Leben zurück. Gebe der Tag uns Arbeit und Lust, bis der Abend uns Ruhe
bringt, und der nächtliche Schlaf uns erquickt."
- Chor
"Kinder! eilet ins Leben hinan! In der Schönheit reinem Gewande begegn` euch die Liebe mit
himmlichen Blick und dem Kranz der Unsterblichkeit."

- der Abbè
"Nach bestimmten Gesetzen treten wir ins Leben ein, die Tage sind gezählt, die uns zum Anblicke
des Lichts reif machen, aber für die Lebensdauer ist kein Gesetz. Der schwächste Lebensfaden
zieht sich in unerwartete Länge, und den stärksten zerschneidet gewaltsam die Schere einer
Parze, die sich in Widersprüchen zu gefallen scheint."

- die Jünglinge
"Wohl verwahrt ist nun der Schatz! das schöne Gebild der Vergangenheit! hier im Mamor ruht
es unverzehrt, auch in euren Herzen lebt es, wirkt es fort. Schreitet, schreitet ins Leben
zurück! nehmet den heiligen Ernst mit hinaus, denn der Ernst, der heilige, macht allein das
Leben zur Ewigkeit.
Das unsichtbare Chor fiel in die letzten Worte mit ein, aber niemand von der Gesellschaft
vernahm die stärkenden Worte, jedes war zu sehr mit den wunderbaren Entdeckungen und seinen
eignen Empfindungen beschäftigt."

[Markese , über seinen Bruder den Harfenspieler und dessen Inzest mit der Schwester]
"Die Verhältnisse der Natur und der Religion, der sittlichen Rechte und der bürgerlichen Gesetze
wurden von meinem Bruder aufs heftigste durchgefochten. Nichts schien ihm heilig als das
Verhältnis zu Sperata, nichts schien ihm würdig, als der Name Vater und Gattin.
Diese allein, rief er aus, sind der Natur gemäß, alles andere sind Grillen und Meinungen.
Gab es nicht edle Völker, die eine Heirat mit der Schwester billigten? Nennt eure Götter nicht,
rief er aus, ihr braucht die Namen nie, als wenn ihr uns betören, uns von dem Wege der Natur
abführen, und die edelsten Triebe, durch schändlichen Zwang, zu Verbrechen entstellen wollt.
Zur größten Verwirrung des Geistes, zum schändlichsten Mißbrauch des Körpers nötigt ihr die
Schlachtopfer, die ihr lebendig begrabt.
Ich darf reden, denn ich habe gelitten wie keiner, von der höchsten süßesten Fülle der
Schwärmerei bis zu den fürchterlichen Wüsten der Ohnmacht, der Leerheit, der Vernichtung
und Verzweiflung, von den höchsten Ahndungen überirdischer Wesen, bis zu dem völligsten
Unglauben, dem Unglauben an mir selbst. Allen diesen entsetzlichen Bodensatz des am Rande
schmeichelnden Kelchs habe ich ausgetrunken, und mein ganzes Wesen war bis in sein Innerstes
vergiftet; nun da mich die gütige Natur durch ihre größten Gaben, durch die Liebe wieder
geheilt hat, da ich an dem Busen eines himmlischen Mädchens wieder fühle, daß ich bin,
daß sie ist, daß wir eins sind, daß aus dieser lebendigen Verbindung ein drittes entstehen
und uns entgegenlächeln soll, nun eröffnet ihr die Flammen eurer Höllen, eurer Fegefeuer,
die nur eine kranke Einbildungskraft versengen können, und stellt sie dem lebhaften, wahren,
unzerstörlichen Genuß der reinen Liebe entgegen. Begegnet uns unter jenen Zypressen, die ihre
ernsthaften Gipfel gen Himmel wenden, besucht uns an jenen Spalieren, wo die Zitronen und
Pomeranzen neben uns blühn, wo die zierliche Myrte uns ihre zarten Blumen darreicht, und
dann wagt es, uns mit euren trüben, grauen von Menschen gesponnenen Netzen zu ängstigen."

"Fragt nicht den Wiederhall eurer Kreuzgänge, nicht euer vermodertes Pergament, nicht eure
verschränkten Grillen und Verordnungen, fragt die Natur und euer Herz, sie wird euch lehren,
vor was ihr zu schaudern habt, sie wird euch mit dem strengsten Finger zeigen, worüber sie
ewig und unwiederruflich ihren Fluch ausspricht.
Seht die Lilien an, entspringt nicht Gatte und Gattin auf Einem Stengel? verbindet beide nicht
die Blume, die beide gebar, und ist die Lilie nicht das Bild der Unschuld, und ist ihre
geschwisterliche Vereinigung nicht fruchtbar? Wenn die Natur verabscheut, so spricht sie es
laut aus; das Geschöpf, das nicht sein soll, kann nicht werden, das Geschöpf, das falsch lebt,
wird früh zerstört. Unfruchtbarkeit, kümmerliches Dasein, frühzeitiges Zerfallen, das sind ihre
Flüche, die Kennzeichen ihrer Strenge. Nur durch unmittelbare Folgen straft sie. Da!
seht um euch her, und was verboten ist, was verflucht ist, wird euch in die Augen fallen.
In der Stille des Klosters und im Geräusche der Welt sind tausend Handlungen geheiligt und
geehrt, auf denen ihr Fluch ruht. Auf bequemen Müßiggang so gut, als überstrengte Arbeit,
auf Willkür und Überfluß, wie auf Not und Mangel sieht sie mit traurigen Augen nieder, zur
Mäßigkeit ruft sie, wahr sind alle ihre Verhältnisse, und ruhig alle ihre Wirkungen.
Wer gelitten hat, wie ich, hat das Recht frei zu sein. Sperata ist mein, nur der Tod soll mir
sie nehmen."

"Er wollte nach dem Schiffe, um zu ihr überzusetzen, wir hielten ihn ab, und baten ihn, daß
er keinen Schritt tun möchte, der die schrecklichsten Folgen haben könnte. Er solle
überlegen, daß er nicht in der freien Welt seiner Gedanken und Vorstellungen, sondern in
einer Verfassung lebe, deren Gesetze und Verhältnisse die Unbezwinglichkeit eines
Naturgesetzes angenommen haben."

[Ein Beichtvater - Sperata, die Mutter des Inzestkindes Mignon]
"Der Beichtvater dünkte sich nicht wenig über das Kunststück, wodurch er das Herz eines
unglücklichen Geschöpfes zerriß. Jämmerlich war es anzusehen, wie die Mutterliebe, die
über das Dasein des Kindes sich so herzlich zu erfreuen geneigt war, mit dem
schrecklichen Gedanken stritt, daß dieses Kind nicht da sein sollte. Bald stritten diese
beiden Gefühle zusammen, bald war der Abscheu über die Liebe gewaltig."

[Sperata - das Volk im Aberglauben an die Auferstehung]
"Von der Zeit an war ihr ganzes Gemüt mit den heitersten Aussichten beschäftigt, auf keinen
irdischen Gegenstand richtete sie ihre Aufmerksamkeit mehr, sie genoß nur wenige Speisen,
und ihr Geist machte sich nach und nach von den Banden des Körpers los.
Auch fand man sie zuletzt unvermutet erblaßt und ohne Empfindung, sie öffnete die Augen
nicht wieder, sie war, was wir tot nennen.
Der Ruf ihrer Vision hatte sich bald unter das Volk verbreitet, und das ehrwürdige Ansehn,
das sie in ihrem Leben genoß, verwandelte sich nach ihrem Tode schnell in den Gedanken,
daß man sie sogleich für selig, ja für heilig halten müsse.
Als man sie zu Grabe bestatten wollte, drängten sich viele Menschen mit unglaublicher
Heftigkeit hinzu, man wollte ihre Hand, man wollte wenigstens ihr Kleid berühren.
In dieser leidenschaftlichen Erhöhung fühlten verschiedene Kranke die Übel nicht, von
denen sie sonst gequält wurden, sie hielten sich für geheilt, sie bekannten's, sie priesen
Gott und seine neue Heilige.
Die Geistlichkeit war genötigt, den Körper in eine Kapelle zu stellen, das Volk verlangte
Gelegenheit seine Andacht zu verrichten, der Zudrang war unglaublich; die Bergbewohner, die
ohnedies zu lebhaften religiösen Gefühlen gestimmt sind, drangen aus ihren Tälern herbei; die
Andacht, die Wunder, die Anbetung vermehrten sich mit jedem Tage. Die bischöflichen Verordnungen,
die einen solchen neuen Dienst einschränken und nach und nach niederschlagen sollten, konnten
nicht zur Ausführung gebracht werden; bei jedem Widerstand war das Volk heftig, und gegen jeden
Ungläubigen bereit, in Tätlichkeiten auszubrechen."

[Der Markese - über Wilhelm]
Der junge Mann. sagte er, hat ausgeschlagen mit mir zu reisen, ehe er das Verhältnis kannte,
das unter uns besteht. Ich bin ihm nun kein Fremder mehr, von dessen Art zu sein, und von dessen
Laune er etwa nicht gewiß wäre; ich bin sein Verbundener, wenn Sie wollen, sein Verwandter, und
da sein Knabe, den er nicht zurücklassen wollte, erst das Hindernis war, das ihn abhielt sich zu mir
zu gesellen, so lassen Sie jetzt dieses Kind zum schönen Bande werden, das uns nur desto fester
aneinander knüpft."

[Wilhelm + Therese]
Therese nahm Wilhelmen bei der Hand, und sagte: wir erleben abermals hier so einen schönen
Fall, daß uneigennütziges Wohltun die höchsten und schönsten Zinsen bringt. Folgen Sie diesem
sonderbaren Ruf, und indem Sie sich um den Markese doppelt verdient machen, eilen Sie einem
schönen Lande entgegen, das ihr Einbildungskraft und Ihr Herz mehr als Einmal an sich gezogen hat.
Ich überlasse mich ganz meinen Freunden und ihrer Führung, sagte Wilhelm; es ist vergebens
in dieser Welt nach eigenem Willen zu streben. Was ich fest zu halten wünschte, muß ich fahren
lassen, und eine unverdiente Wohltat drängt sich mir auf."

[Wilhelm - Lothario, über den Abbè und Natalie]
Und wenn nun, versetzte Lothario, indem er ihn bei der Hand nahm, Ihre Verbindung mit meiner Schwester
die geheime Bedingung wäre, unter welcher sich Therese entschlossen hat, mir ihre Hand zu geben?
Eine solche Entschädigung hat Ihnen das edle Mädchen zugedacht; sie schwur, daß dieses doppelte Paar an
Einem Tage zum Altare gehen sollte. Sein Verstand hat mich gewählt, sagte sie, aber sein Herz fordert
Natalien, und mein Verstand wird seinem Herzen zu Hülfe kommen. Wir wurden einig, Natalien und Sie zu
beobachten, wir machten den Abbè zu unserm Vertrauten, dem wir versprechen mußten, keinen Schritt zu
dieser Verbindung zu tun, sondern alles seinen Gang gehen zu lassen. Wir haben es getan. Die Natur hat
gewirkt, und der tolle Bruder hat nur die reife Frucht abgeschüttelt. Lassen Sie uns, da wir einmal so
wunderbar zusammen kommen, nicht ein gemeines Leben führen, lassen Sie uns auf eine Würdige Weise
tätig sein!
Unglaublich ist es, was ein gebildeter Mensch für sich und andere tun kann, wenn er, ohne
herrschen zu wollen, das Gemüt hat Vormund von Vielen zu sein, sie leitet dasjenige zur rechten
Zeit zu tun, was sie doch alle gern tun möchten, und sie zu ihren Zwecken führt, die sie
meistenteils recht gut im Auge haben, und nur meist die Wege dazu verfehlen.
Lassen Sie uns hierauf einen Bund schließen, es ist keine Schwärmerei, es ist eine Idee, die
recht gut ausführbar ist, und die öfters, nur nicht immer mit klarem Bewußtsein, von guten
Menschen ausgeführt wird. Meine Schwester Natalie ist hiervon ein lebhaftes Beispiel.
Unerreichbar wird immer die Handelsweise bleiben, welche die Natur dieser schönen Seele
vorgeschrieben hat. Ja sie verdient diesen Ehrennamen vor vielen andern, mehr, wenn ich sagen
darf, als unsre edle Tante selbst, die zu der Zeit, als unser guter Arzt jenes Manuskript so
rubrizierte, die schönste Natur war, die wir in unserm Kreise kannten.
Indes hat Natalie sich entwickelt, und die Menschheit freut sich einer solchen Erscheinung.